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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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stellte sich vor, wie er mit Iris wiederkommen und ihr die Erdbeeren zeigen würde. Sie mussten sich in den letzten Jahren selbst ausgesät haben, sie konnten noch nicht lange hier wachsen, und sie waren genau die Sorte neuer Sache, über die Iris jubelte. Der Saft der Erdbeeren drang in die Ritzen seiner Haut, ließ sich nicht mehr abwischen und färbte seine Finger rot, als hätte er in Blut gegriffen. Er schüttelte irritiert den Kopf.
    Und schließlich machte er kehrt und ging zurück, denn der Morgen schritt voran, und Winfried würde bald aufwachen. Er konnte ihn nicht so lange allein lassen, nicht morgens, wenn Winfried beim Aufwachen ohnehin desorientiert war. Manchmal vergaß er über Nacht, dass er blind war oder dass seine Beine ihm nicht mehr gehorchten, und am Morgen packte ihn die Verzweiflung darüber mit einer Macht, die ihn und Lenz gemeinsam zu Boden schleuderte, wenn er um sich schlug und sich nicht helfen lassen wollte – für Sekunden rasend vor Wut. Danach saß er wieder zusammengesackt in seinem Sessel vor dem Fernseher, und sein Gesicht war dunkler als zuvor.
    Als Lenz an der Stelle vorbeikam, an der Siri versucht hatte, hinunterzuklettern, blieb er stehen. Jetzt, wo die Nebel sich verzogen hatten, sah er ihre Spur; er sah, wo sie die Blätter, Erde und Stücke der Kreide mit sich gerissen hatte, als sie hinuntergerutscht war. Aber die Abbruchkante jenseits des Geländers war frisch, die Kreide, die dort in die Tiefe gestürzt war, hatte sich erst vor Kurzem gelöst. Es musste eine Art Erdrutsch gegeben haben, an einem der letzten Tage.
    Lenz trat näher ans Geländer, lehnte sich dagegen und sah hinunter.
    Hinunter in die schmale, halbmondförmige Bucht, in der Iris und er sich so oft getroffen und gespielt hatten, sie wären Piraten oder gestrandete Seeleute, Auswanderer oder Flüchtlinge.
    Dort unten lag etwas. Auf den Felsen direkt hinter dem Sand. Etwas Helles mit bunten Flecken.
    Er kniff die Augen zusammen. Es war eine Daunenjacke. Weiß oder hellblau, mit aufgedruckten Blumen.
    Lenz krallte seine Hände um das Rundholz des Geländers.
    Jemand trug diese Daunenjacke, natürlich. Ein Arm der Person war ausgestreckt, und ihre Hand hielt etwas fest, das in der Sonne glänzte.
    Eine Plastiktüte.
    Ein paar winzige dunkelrote Flecken leuchteten auf den Steinen, und zuerst dachte Lenz, es wären Tropfen von Blut. Aber es waren kleine rote Früchte: Walderdbeeren.
    Die Person in der Daunenjacke hatte Walderdbeeren gesammelt.
    Und dann erkannte er sie.
    »Frau Henning«, flüsterte er. »Aber warum Frau Henning? Warum?« Er konnte nicht aufhören, den Kopf zu schütteln. Frau Henning hatte mit nichts etwas zu tun.
    War sie tatsächlich … von selbst abgestürzt? Hatte sie im Nebel die Orientierung verloren? Unsinn, sagte er sich, das Geländer war nicht zu übersehen, und selbst, wenn man es übersah, so würde man es doch ertasten können. Man musste sich bücken und unter dem Geländer hindurchschlüpfen, um die Steilküste hinabzuklettern. Jemand hatte dafür gesorgt, dass Frau Henning das getan hatte.
    Er stand ganz steif, reglos, versteinert und versuchte zu denken. Logisch und der Reihe nach.
    Und schließlich begann er, etwas zu begreifen.
    Es war – vielleicht – eine Verwechslung gewesen, eine Verwechslung im Nebel oder in der Dämmerung. Jemand hatte Frau Hennings geblümte Jacke für einen geblümten Mantel gehalten. Siri war hier gewesen – oder nicht hier gewesen, aber jemand hatte geglaubt, sie wäre hier gewesen. Falls es vorhin Siri gewesen war, die er gesehen hatte …
    Aber es konnte genauso gut sein, dass Frau Henning schon die ganze Nacht hier lag, seit gestern Abend.
    Jemand hatte geglaubt, Siri zu verfolgen, zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen Aljoschas Beerdigung und heute Morgen. Jemand hatte versucht, sie zu beseitigen.
    Und er wusste, was die Leute sagen würden. Er wusste, auf wen sie zeigen würden.
    In seinem Kopf breiteten sich, scharf und schmerzhaft, Fragen aus, die er sich besser selber stellte, bevor andere sie stellten: War ich gestern Nacht schon einmal hier? Oder habe ich vorhin irgendwo die Zeit aus den Augen verloren – ein Stück davon gelebt und sofort wieder vergessen? Habe ich, vielleicht erst vor Minuten, einen Menschen in die Tiefe gestoßen?
    Er musste jemandem Bescheid sagen. Jemand musste den Körper bergen. Aber wem sollte er Bescheid sagen, ohne sich selbst verdächtig zu machen? Er drehte sich um und rannte.
    »Lenz? Wie lange sitzt

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