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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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du schon hier? Lenz?«
    Er sah zu Annelie auf, aber irgendwie fand er keine formbaren Worte in sich. Vielleicht wartete er schon zu lange, und die Worte waren in ihm eingerostet, verklemmt wie eine Tür.
    »Lenz?«
    Sie sah besorgt aus.
    Im Garten vor den Verandafenstern lag helles Mittagslicht. Er blinzelte. Die Hintertür war offen gewesen, er hatte sich einfach in den Schaukelstuhl gesetzt und gewartet; nicht gerufen, nur gewartet. Annelie benutzte immer die Hintertür, sie würde, hatte er gedacht, irgendwann aufstehen und durch die Hintertür in den Garten hinausgehen. Sie war lange nicht gekommen.
    Zu Hause saß Winfried vor dem Fernseher, er hatte ihm beim Aufstehen geholfen und ihn ins Bad gebracht und ihn vor den Fernseher gesetzt wie jeden Morgen, ehe er hergekommen war. Man konnte nicht aufhören, Alltagsdinge zu tun, nur weil man eine Leiche fand oder nur weil an einem Wassergraben irgendwo auf einem Feld ein Abend zerbrochen war. Er hatte immer weiterfunktioniert, egal, was passiert war. Nur geredet hatte er nicht immer. Und jetzt war sie wieder da, die Wortsperre; er wollte reden, er war gekommen, um zu reden, aber es gelang ihm nicht. Es erschien so sinnlos. Niemand würde ihm glauben.
    Selbst Annelie glaubte, dass er etwas mit Iris’ Tod zu tun hatte, er war sich sicher, dass sie das glaubte. Sie verurteilte ihn nicht, sie würde ihn immer schützen, aber sie glaubte, dass er etwas damit zu tun hatte.
    Und vielleicht hatte sie recht.
    »Lenz? Sprich mit mir. Was ist passiert?«
    Sie kniete jetzt vor ihm, und plötzlich erinnerte sie ihn an Iris, die auf die gleiche Weise vor seinem Bett gekniet hatte, auf einer Antwort bestehend. Nicht, dass sie Iris ähnlich sah. Annelie sah niemandem ähnlich außer sich selbst. Er hob den Kopf und sah sie an und versuchte sich zu erinnern, wie sie ausgesehen hatte, als sie jung gewesen war.
    Sie musste einmal hübsch gewesen sein. Sie war es immer noch, auf ihre eigene Weise. Ihr Schneehaar fing das Licht wie stets, ihre Augen zwischen den tausend winzigen Fältchen waren hell und klar, und die Sonne glänzte auf den weichen Falten des goldgelben Tuchs, das um ihren Hals lag. Sie war ein lebendes Symbol für das Helle, das Schöne, die Hoffnung.
    Auf dem Tisch neben dem Schaukelstuhl stand ein Strauß gelber Blüten.
    Sie streckte die Hand aus und fuhr über seine Wange, über seine Stirn, durch sein Haar. Ihre Berührungen waren leicht wie immer, leicht wie ein Windhauch.
    »Verprügelt hat dich diesmal niemand«, sagte sie. Er schüttelte den Kopf. »Aber du hast Ringe unter den Augen. Du hast nicht geschlafen. Egal, was passiert ist, und egal, was noch passiert, du musst schlafen. Komm.«
    Er stand aus dem Schaukelstuhl auf und folgte ihr, willenlos wie das Kind, das er war. Sie führte ihn nach oben in ihr Schlafzimmer.
    »Du kannst mein Bett haben«, sagte sie. »Eine Weile kommt Winfried da drüben alleine klar.« Sie deckte ihn mit ihrer Decke zu, und er atmete ihren Geruch von Aprikosenseife und frisch gebackenen Keksen ein. Sie hatte recht, er war müde, unendlich müde.
    »Und wenn du aufwachst, sprichst du mit mir«, sagte Annelie.
    Er nickte.
    Aber weder Annelies Bett noch ein paar Stunden Schlaf noch der Geruch von frischen Keksen würden irgendeines seiner Probleme lösen. Er schloss die Augen, er wollte daran glauben, dass alles gut wurde, aber es gelang ihm nicht.
    Und dann schlief er ein.
    Er erwachte von geflüsterten Worten, rührte sich nicht, blieb liegen und lauschte.
    »Hörst du mich? Lenz? Hörst du mich oder schläfst du? Sie haben sie gefunden. Ich weiß jetzt, was passiert ist. Der Direktor hat sie gefunden, unten bei den Klippen. Und es heißt, er hätte dich dort gesehen, heute Morgen, ganz früh. Aber ich verstehe nicht … warum Frau Henning?« Er öffnete die Augen nicht. »Hat dich jemand gesehen?«
    Er hörte sie im Zimmer auf und ab gehen, sich wieder neben das Bett setzen.
    »Ich wünschte, ich könnte dich verstehen«, wisperte sie. »Schlaf nur, schlaf … ich wünschte, ich könnte begreifen …« Ihre Finger fuhren wieder über seine Stirn, spielten mit seinem Haar, dem schütter werdenden grauen Haar, wie man mit dem Haar eines kleinen Kindes spielt.
    »Wenn Lotte nicht in den Sturm hinausgegangen wäre, wäre alles anders gewesen«, flüsterte Annelie. »Lotte! Du wolltest immer so aussehen wie sie … du hast sie immer geliebt … Aschenputtel am Grab der Mutter … aber sie hat dich alleingelassen, sie ist mit dir

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