Friedhofskind (German Edition)
in den Sturm hinausgegangen und hat dich alleingelassen. Warm eingepackt hat sie dich, damit du nicht frierst, eine gute Mutter war sie, und dann hat sie dich der Welt übergeben, so warm eingepackt, und das war es mit Muttersein. Ich glaube, sie dachte, du wärst nicht mehr am Leben. Sie dachte, du wärst vor ihr erfroren. Sonst kann ich mir nicht vorstellen, warum sie das getan hat. Sie hat den Kinderwagen stehen lassen, Lenz, dich und den Kinderwagen, sie ist weggegangen, weil es ohne den Wagen leichter war, wegzugehen, sie hat versucht, zu überleben … sie haben ihre Spuren nicht gefunden. Als sie erfroren ist, war sie ganz allein, sie war nicht bei dir, sie war ganz allein irgendwo da draußen, sie hat die Häuser im Schneetreiben nie erreicht, sie muss daran vorbeigegangen sein. Sie hätte bei dir bleiben sollen. Weißt du, wer dich gefunden hat, Lenz? Das war ich. Ich habe es dir nie erzählt. Es spielt ja auch keine Rolle … ich war verrückt genug, da draußen herumzulaufen, aber ich war auch klug genug, ein Dutzend warme Sachen übereinander anzuziehen, und klug genug, die Skier zu nehmen. Der erste und der zweite Weihnachtsfeiertag … das sind die einsamsten Tage im Jahr, wenn man keine Familie hat … da lagst du, ganz allein, in deinem Kinderwagen. Er war gekippt, aber du warst nicht herausgefallen. Der Sturm hatte sich gelegt, es schneite nicht mehr, die Welt war sehr klar, das weiß ich noch, und ich habe dich aus dem Wagen genommen und mit ins Warme. Es war ein Wunder, dass du lebtest. War schwierig, an Milch zu kommen. Alles war schwierig in dieser Zeit, in diesem Winter. Ich hatte dich zwei Tage lang bei mir. Und dann kam dein Vater, von drüben aus dem nächsten Ort, und sagte mir, deine Mutter wäre da draußen erfroren, und er wusste nicht, was er mit dir tun sollte, aber haben wollte er dich trotzdem, natürlich, und ich habe mich gesorgt … und dann hörte ich, dass er ihr nachgegangen ist, seiner Lotte, das war kein Unfall, mein Junge, er hat das mit voller Absicht getan. Und du kamst wieder zu uns ins Dorf, nur diesmal war es Winfried, der dich besaß, sie haben dich herumgereicht wie ein Stück Vieh. Aber ich war nie sehr weit weg, mein Junge, ich war nie sehr weit weg. Manchmal hat Winfried sich helfen lassen, manchmal nicht. Meistens nicht. Dann habe ich gewartet, bis er außer Haus war oder bis er schlief, und habe mich zu euch hineingeschlichen, um nachzusehen, ob du noch lebst. Wie viele Male habe ich dich heimlich gefüttert, Flaschen gewärmt und mit zu euch hinübergenommen! Dich heimlich gewickelt, gewaschen, dein Bett gemacht! Winfried hat sich Mühe gegeben, er wollte sich gut um dich kümmern, aber er konnte es nicht, und er konnte nicht zugeben, dass er es nicht konnte. Als du ein Jahr alt warst, bin ich nicht mehr zu euch gegangen. Winfried hatte angefangen, Verdacht zu schöpfen, und du warst aus dem Gröbsten heraus. Du würdest, dachte ich, überleben. Du hast überlebt, mein Junge. Du hast überlebt. Aber später, als wir uns zum zweiten Mal kennengelernt haben, an der Bushaltestelle … da wusste ich, dass alles ein schrecklicher Fehler war.«
Sie machte eine Pause, und er dachte, sie würde nichts mehr sagen, doch dann wisperte sie: »Lotte … sie haben Lotte nie gefunden, weißt du das? Ihr Grab war leer. Ein Gedenkgrab. Vielleicht haben die Tiere sie gefunden, in dem Winter, und nichts mehr von ihr übrig gelassen. Aber ich habe es ihr immer übel genommen, dass sie dir nicht einmal einen Körper dagelassen hat. Du hast Aschenputtels Haselnussbaum neben ein leeres Grab gepflanzt. Vielleicht kommt es daher, dass du Geister siehst, vielleicht hat ja ein Teil von dir immer geglaubt, sie wäre irgendwo da draußen unterwegs. Wenn das alles nicht passiert wäre … ich frage mich … wäre Frau Henning dann noch am Leben? Und Aljoscha? Wann hat alles angefangen, aus dem Ruder zu laufen?«
Lenz bemühte sich, ganz ruhig zu atmen, und irgendwann ging Annelie fort.
Er stand auf und sah aus dem Fenster.
Unten vor dem Haus standen Leute. Der Direktor. Werter. Ein Polizist. Er brauchte Zeit, um über Annelies Worte nachzudenken, doch die Leute dort unten hatten keine Zeit.
»Geh jetzt nicht da hinunter«, sagte jemand hinter ihm, und er fuhr herum.
»Iris!«
Sie saß mit gekreuzten Beinen auf Annelies Bett, auf den zerwühlten Decken, zwischen denen er eben noch gelegen hatte. Ein blauer Farbfleck auf aprikosenfarbener Bettwäsche, schön und hell.
»Du bist
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