Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
geworden.» Alle und jede philologische Tätigkeit, so der Redner, soll umschlossen und eingehegt sein von einer philosophischen Weltanschauung, die sich nicht in Einzelheiten verliert, sondern darüber das Ganze im Blick hat. Und in diesem Sinn … Man darf annehmen, dass er lebhaften Applaus erntete, der vierundzwanzigjährige Professor Nietzsche im gut besuchten Museumssaal, obwohl er den anwesenden professoralen Honoratioren doch gerade mehr oder weniger ihr Handwerk gelegt hatte. Ob Universitäten, die in diesem Fall von Basler Patrizierfamilien und den Handwerkszünften gesponsort wurde, der rechte Ort für solche Kulturrevolutionen waren, ist eine andere Frage. Vielleicht war Nietzsches Instinkt ganz berechtigt, dass es besser wäre, flanierender Philosoph oder philosophischer Flaneur in Paris zu sein, als an einer Universität zu unterrichten. Doch er war leider kein reicher Kaufmannssohn wie Erwin Rohde – oder wie Schopenhauer, sein geistiger Vater, der seine gesamte Restexistenz als nicht wahrgenommener Philosoph (bis auf die Spätjahre) vom Erbe des Vaters bestritt.
Es scheint jedenfalls aufschlussreich, dass Nietzsche, dem als außerordentlicher Professor auch das Unterrichten am Pädagogium aufgetragen war, sich mit diesen Gymnasiasten sehr viel mehr Mühe gab als mit seinen Studenten. Vielleicht war ihm bewusst, wie offen man im jugendlichen Alter noch war und wie man da wirklich mit dem entsprechenden Stoff zur richtigen Zeit und gut vermittelt fürs Leben geprägt werden konnte, so dass sich der Einsatz wohl lohnte. Er selbst hatte schließlich in Schulpforta seine prägenden Erfahrungen gemacht. Wie es der Zufall wollte, hatte sich Nietzsche mit seiner Berufung nach Basel dem verehrten Maestro Wagner, der in Tribschen bei Luzern lebte, so weit genähert, dass er dort umstandslos Wochenenden verbringen konnte, wie der Meister ja bereits in Leipzig vorgeschlagen hatte. Die Einladung stand, und Nietzsche ging gern darauf ein. Wagner lebte damals mit Cosima von Bülow, der Tochter Franz Liszts, noch in wilder Ehe zusammen – was Nietzsche vielleicht faszinierte. Als er eines schönen Wochenendes auftauchte im Hause von Tribschen (lange war er zuvor mutlos ums Haus geschlichen), stand Cosima vor ihm und begrüßte ihn freundlich. Die großgewachsene, etwas knochige Frau mit den markanten Zügen, den großen Augen und dem hohen dunklen Haaransatz, Wagners Geliebte und Lebensgefährtin, später auch Ehefrau, hat Nietzsche beeindruckt, ganz ohne Zweifel. Sie war sicher ein anderer Typ als die Professorengattinnen, die er kannte und die außer seiner Schwester, über die noch zu reden sein wird, bislang quasi sein einziger weiblicher Umgang waren. Die honorige Münchener Gesellschaft, wo das Paar sich zuletzt im Dunstkreis des königlich-bayerischen Mäzens aufgehalten hatte, war so schockiert über das freie Liebesverhältnis, dass die «Wagners» das Feld wieder räumen mussten. Nach Meinung von Regierung und Öffentlichkeit hatte der junge König für seinen Günstling zudem allzu tief in die Staatskasse gegriffen, so dass der Skandal den Musiker aus dem Königreich Bayern vertrieb. Hier in der Schweiz hatte Richard aber gottlob weder Gläubiger noch Öffentlichkeit noch politische Zensur auf den Fersen. Cosima hatte bereits zwei Kinder von Richard, die Ehemann Bülow damals für seine eigenen hielt. In einer der ersten Nächte, die Nietzsche in Tribschen zubrachte, kam ein drittes zur Welt: Siegfried. Cosima war also hochschwanger, als sie Nietzsche, vielleicht Zigarre rauchend, wie sie es, Gäste empfangend, gerne tat, erstmals entgegentrat. An Freund Rohde schrieb Nietzsche nach der Erwähnung der Geburt des kleinen Siegfried: «Als ich das letzte Mal dort war, wurde Wagner gerade fertig mit der Composition seines ‹Siegfried› und war im üppigsten Gefühl seiner Kraft» . Kraft, wo man hinblickte: Wagner zeugt einen Siegfried, er komponiert einen «Siegfried». (Die Textfassung seines Gesamtkunstwerks schrieb Wagner natürlich auch.) Und dann diese herrliche Frau, die seinetwegen ihre bürgerliche Existenz in den Wind gejagt hatte und seine abenteuerlichen Wege mit ihm bestritt! Wagner wurde für den jungen Nietzsche geradezu zum Titan. «Ein fruchtbares, reiches, erschütterndes Leben, ganz abweichend und unerhört unter mittleren Sterblichen!», meinte er. Und: «Dafür steht er auch da, festgewurzelt durch eigne Kraft, mit seinem Blick immer drüber hinweg über alles Ephemere, und
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