Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Unzufriednen, die bei jedem Umsturz etwas für sich zu gewinnen hofften. Menschen, die für jeden sogenannten ‹Fortschritt› schwärmen. Solche, die sich bei der bisherigen Musik langweilten und nun ihre Nerven kräftiger bewegt fanden. Menschen, die sich für alles Verwegne und Kühne fortreissen lassen. […] Litteraten mit allen unklaren Reformbedürfnissen. Künstler, die die Art unabhängig zu leben bewundern.» Das klingt alles schon sehr nach den Tiefschlägen eines Abtrünnigen, der die Gefährlichkeit seiner Droge erkannt hat und ihre Mechanismen entlarvt. Nietzsche differenziert zwischen Wagner und dem Wagnerianismus, der sich da vor seinen Augen entfaltet, doch er spürt, dass es zwischen beidem auch eine Verbindung gibt, unbehagliche Übereinstimmungen. Wagners Musik bleibt er zeitlebens verfallen, aber nicht dem Programm, nicht dem Menschen, nicht der Bewegung, vor allem aber nicht dem Wagner’schen «Ideal», das in seiner ganz späten Form ein Affront seiner eigenen Konsequenz und Entwicklungen ist.
Seit 1873 war Friedrich Nietzsche mehr oder weniger dauerhaft leidend. Er litt unter mehrtägigen Migräneanfällen mit stundenlangem Erbrechen, Augenschmerzen, temporärer Erblindung, Schlafstörungen, starken Magenbeschwerden. Kurzen Genesungsphasen von zwei, drei Wochen folgten oft neue Anfälle, und die Ärzte konnten seine Leiden nur etwas lindern, nie heilen. Eine erbliche Disposition durch den Vater war sicher gegeben. Bevor dieser im Alter von 35 Jahren starb, hatte der nervlich labile Mann ähnliche Symptome gehabt, und Nietzsche fürchtete, es werde ihn ein ganz ähnlicher Tod mit fünfunddreißig ereilen wie seinen Vater, von dem er doch seine ganze Feinsinnigkeit, Musikalität und geistige Tiefe ableitete. Schon in den Jahren, in denen er noch seinen Baseler Lehrdienst versah, suchte er in der vorlesungsfreien Zeit Orte auf, von denen er sich Erholung versprach: dunkle Nadelwälder, Luftkurorte, verschiedene Höhenlagen, gemäßigtes Seeklima. Der richtige Himmel, die richtige Höhenlage, die richtige Diät, die richtige Luft – für den Rest seines Lebens, das ihm als geistig Gesunder noch blieb, würde Nietzsche nach der idealen Atmosphäre suchen, um Befreiung von seinen Leiden zu finden, ohne Schmerzen zu sein. Was hatte es in Wirklichkeit auf sich damit? Es ist sicher falsch, Nietzsches Krankengeschichte mit dem ausgebrochenen Wahnsinn, dem zerebralen Verfall, nur von hinten aufrollen zu wollen und lediglich monokausal zu betrachten. Die Syphilis-Theorie gilt als einigermaßen gesichert, wenn es auch nach wie vor Autoren gibt, die sie anzweifeln, und immerhin ein zeitgenössischer Arzt – es ist derselbe, mit dem Richard Wagner so engagiert wegen Freund Nietzsche korrespondierte – hat überliefert, Nietzsche selbst habe die Frage nach einer syphilitischen Infektion ausdrücklich verneint. Die nervliche Überreizung, die Kopfschmerzattacken, die Magenschwäche, der Augendruck und die Sehstörungen sind schon aus seinen Schulpfortaer Jahren überliefert und wurden durch geistige Überarbeitung sicher verstärkt. Seine hypersensible Veranlagung lässt auch eine psychotische Diagnose, unabhängig vom Krankheitsverlauf einer Syphilis, zu: eine manisch-depressive Periode etwa unmittelbar vor dem Zusammenbruch, die man allerdings bislang immer ins symptomatische Gesamtbild der fortschreitenden Paralyse eingefügt hat. Da Nietzsche sexuell eher gehemmt war, sind Bordellbesuche wohl die einzige zwischengeschlechtliche Aktivität, die bei ihm vorstellbar ist und die dann auch zu einer Syphilis geführt haben kann, aber auch dafür gibt es realiter keinen Beweis. Der Philosoph predigte freie Sinnlichkeit und dionysischen Rausch, aber er hielt sich mit diesem Thema in seinem persönlichen Leben bedeckt, das im Wesentlichen auf Sublimation aufgebaut war. Als er dann immer kränker wurde, hatte Richard Wagner dafür eine ziemlich spezielle Erklärung: Nietzsche, so meinte er, onanierte zu viel. Schlimme Folgen könne das haben. Die ersten Anzeichen dafür seien schon da, und er, Richard Wagner, habe derartige Schicksale bei anderen jungen Männern von großen Geistesgaben bereits mehrfach gesehen. So schrieb er es Nietzsches Arzt Dr. Eiser. Auch Cosima schien zu der Zeit sehr besorgt, und da Nietzsche selbst sich bereits 1874 (in dem Jahr, als er dreißig wurde) auf ratlose und schüchterne Brautschau begab, mehr oder weniger widerwillig, jedenfalls nicht sehr überzeugt und eigentlich nur, weil
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