Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
noch Vermittlungsinhalte zur Freigeistigkeit. Man dürfte ihn, meinte sie, nicht als christliches Kunstwerk in einem so vordergründigen Sinne verstehen oder gar als Bekenntnis zur orthodoxen dogmatischen Kirche, sondern man müsse ihn vor dem Hintergrund von Richard Wagners Gesamtwerk betrachten, philosophisch bedeutsam und als Erklärung der sittlichen Bedeutung der Welt. «Es wäre töricht» , meint sie, «es als eine Rückkehr zum historischen Christentum ansehen zu wollen. Gewiß war nichts Wagners Gedanken ferner. Aber eben so entschieden ist es ein Protest gegen die moderne, materialistische Weltanschauung.» («Lebensabend einer Idealistin»). Kunstreligion, meinte sie, noch dazu kombiniert mit Schopenhauer’scher Ethik, sei etwas anderes. «Es ist durchaus Religion, nicht Religion aus dumpfen Kirchenräumen und versteinerten Dogmen, sondern lebendiges Fließen des idealen Quells, welcher die Menschheit vom Tiere unterscheidet und sie über die Gemeinheit und das Elend des Lebens erhebt.» (Brief an Olga Monod-Herzen, 30.8.1878) Warum konnte Nietzsche da einfach nicht mitgehen? Nein, Nietzsche konnte das nicht. Für ihn war sein größtes Bildungserlebnis, der Komet, der ihn zu sich selbst führte, für ihn, den fortan so einsamen Denker, war das Kapitel «Wagner» beendet.
In «Menschliches, Allzumenschliches» vollzieht Nietzsche auch stilistisch eine Loslösung vom Akademischen in die literarische Freigeistigkeit. Der aphoristische Stil mit seinen Eingebungen, Augenblickserkenntnissen, Gedanken, denen man in der Entstehung zuschauen kann, bietet ihm dazu neue Möglichkeiten, und er begibt sich damit in eine virtuose Phase des Experiments. Hier endlich kann er alle Fesseln abwerfen und so dahinplaudern, wie es in Wahrheit bestellt ist um die Menschen und ihre Moral, um die intelligible Freiheit, um Gut und Böse und um den Idealismus, ums Christentum, um die Kunst, um die Empfindungen, um den Staat, hohe und niedere Kultur. Etwa (68): «Moralität und Erfolg. – Nicht nur die Zuschauer einer Tat bemessen häufig das Moralische oder Unmoralische an derselben nach dem Erfolge: nein, der Täter selbst tut dies.» Oder (54): «Die Lüge. – Weshalb sagen zu allermeist die Menschen im alltäglichen Leben die Wahrheit? – Gewiß nicht, weil ein Gott das Lügen verboten hat. Sondern erstens: weil es bequemer ist; denn die Lüge erfordert Erfindung, Verstellung und Gedächtnis. (Weshalb Swift sagt: wer eine Lüge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er übernimmt; er muß nämlich, um eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfinden.) Sodann: weil es in schlichten Verhältnissen vorteilhaft ist, direkt zu sagen: ich will dies, ich habe dies getan, und dergleichen; also weil der Weg des Zwangs und der Autorität sicherer ist als der der List. – Ist aber einmal ein Kind in verwickelten häuslichen Verhältnissen aufgezogen worden, so handhabt es ebenso natürlich die Lüge und sagt unwillkürlich immer das, was seinem Interesse entspricht; ein Sinn für Wahrheit, ein Widerwille gegen die Lüge an sich ist ihm ganz fremd und unzugänglich, und so lügt es in aller Unschuld.» Oder (110): «Die Wahrheit in der Religion. […] Noch nie hat eine Religion, weder mittelbar noch unmittelbar, weder als Dogma noch als Gleichnis, eine Wahrheit enthalten. Denn aus der Angst und dem Bedürfnis ist eine jede geboren, auf Irrgängen der Vernunft hat sie sich ins Dasein geschlichen.» Nicht zu sprechen von hinreißenden Aperçus wie (483): «Feinde der Wahrheit. – Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.» Der folgende Aphorismus (86) könnte auch von Chamfort sein am Vorabend der Französischen Revolution oder von Voltaire, dem das Buch Nietzsches gewidmet ist: «Das Zünglein an der Wage. – Man lobt oder tadelt, je nachdem das eine oder das andere mehr Gelegenheit gibt, unsre Urteilskraft leuchten zu lassen.» Oder (91): «Moralité larmoyante. – Wieviel Vergnügen macht die Moralität! Man denke nur, was für ein Meer angenehmer Tränen schon bei Erzählungen edler, großmütiger Handlungen geflossen ist! – Dieser Reiz des Lebens würde schwinden, wenn der Glaube an die völlige Unverantwortlichkeit überhandnähme.» Wie es aber bei Sentenzen so ist – und auch bei Goethes «Betrachtungen im Sinne der Wanderer» etwa kann man das feststellen –, bleibt selbst bei einem Geist wie Friedrich Nietzsche nicht aus, dass auch banale Sprüche darunter sind, die genauso gut von Tante
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