Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Venedig-Aufenthalt, aus dem dann nichts wurde; nach weiteren Anfällen blieb nur die Aussicht aufs Hochgebirge und völlige Einsamkeit. «Mein Zustand war wieder fürchterlich, hart an der Gränze des Ertragbaren» , schrieb er dem Freund und Mitarbeiter aus Basel am 1. März. «‹Ob ich reisen kann?› Die Frage war mir oft: ob ich da noch leben werde?» Dennoch entwarf er für den vorgesehenen Italien-Aufenthalt ein «vorläufiges Programm» – wie es denn sein sollte mit ihm im Süden und wie es erträglich sein könnte für ihn, den reisenden Kranken in leidlichen Phasen. «Dienstag den 25 März Abends 7 Uhr 45 komme ich in Venedig an und werde von Ihnen eingeschifft. Nicht wahr? Sie miethen mir eine Privatwohnung (Zimmer mit gutem warmen Bett): ruhig. Womöglich eine Altane oder ein flaches Dach bei Ihnen oder mir, wo wir zusammen sitzen und so weiter. Ich will nichts sehen als zufällig. – Aber auf dem Markusplatz sitzen und Militärmusik hören, bei Sonnenschein. Alle Festtage höre ich die Messe in S.Marco. Die öffentl[ichen] Gärten will ich in aller Stille ablustwandeln. Gute Feigen essen. Auch Austern. Ganz Ihnen folgen, dem Erfahrenen. Ich esse nicht im Hôtel. – Größte Stille. Ein paar Bücher bringe ich mit. Warme Bäder bei Barbese (ich habe die Adresse). – Sie bekommen das erste fertige Exemplar des Buches. Lesen Sie’s jetzt noch einmal im Ganzen: damit Sie sich als Verbesserer des Buches wiederfinden (und auch mich: zu guter letzt habe ich mir noch viel Mühe gegeben) Lieber Himmel, vielleicht ist es mein letztes Produkt. – Es ist wie mir vorkommt, eine verwegene Ruhe darin.» Am 9. März schrieb er Mutter und Schwester nach Naumburg: «Jetzt Kaltwasserkur, daher eine Erleichterung des Zustandes. Es gab eine Nacht, welche ich nicht zu überleben meinte.» Am 17. März teilte er dem Kollegen Franz Overbeck mit: «Lieber Freund, es geht mir fürchterlich, ich weiss nicht wie ertragen … – Keine Vorlesung.» Und tags darauf Ernst Schmeitzner in Chemnitz: «Eben wieder von den Todten erstanden. – Ich kann alsonicht nach Venedig: es geht zu schlecht.» Franziska und Elisabeth Nietzsche lasen auf einer Postkarte aus Basel vom 19. März: «Noch ein schrecklicher Anfall (der zweite im Winter mit Erbrechen), der mich ganz zerknickt hat: ich mußte die Vorlesungen ganz abbrechen.» Und am 26. März mittwochs aus Genf: «Schlimm! Es will nicht vorwärts! Einer der härtesten Anfälle mit vielem Erbrechen. Der Magen immer zerstört.» Am 30. März ging das Fazit an Overbeck: «Für mich Einsamen giebt es keine Genesung. – Fontenelle’s dialogues des morts sind mir wie blutsverwandt.» Auch erhielt der Kollege am Ort seiner langjährigen Lehre die Information, er, Nietzsche, habe die «Basileophobie». Er fürchte das schlechte Wasser, die schlechte Luft und das ganze gedrückte Wesen der «unseligen Brütestätte» seiner langjährigen Leiden. Basel also sollte es nach Möglichkeit gar nicht mehr sein, Naumburg aber erst recht nicht, doch auch an seinem derzeitigen Ort, dem schönen Genf, ging es ihm schlecht. Heinrich Köselitz las auf einer Postkarte Nietzsches vom 5. April: «Ihre Bemerkung über den lago maggiore hat mich wunderbar berührt: Sie haben mich darin so schön errathen. Erwägen Sie mit feinem Herzen und Auge einen kleinen Ort Fariola, zwischen Pallanza und Stresa, dort wo die Simplonstraße an den See stößt.» Das sind Paradiesesvorstellungen: Orte, an denen der Patient ohne Schmerzen sein konnte oder es wenigstens in der Vorstellung war. Am 23. April, mittlerweile wieder nach Basel zurückgekehrt, schrieb Nietzsche an Rée, den Begleiter seines schönen Sorrenter Jahres mit Malwida, als es ihm noch so viel besser ging: «Mein Zustand ist eine Thierquälerei und Vorhölle, ich kann’s nicht leugnen. Wahrscheinlich hört es mit meiner akademischen Thätigkeit auf, vielleicht mitder Thätigkeit überhaupt, möglicherweise mit – – usw: aber erst in diesem Falle mit der Freundschaft, liebster treuer Freund!» Und so wandte er sich schließlich am 2. Mai an den Präsidenten der Baseler Universität mit folgendem offiziellen Gesuch: «Hochgeachteter Herr Präsident! Der Zustand meiner Gesundheit, derentwegen ich schon mehrere Male mich mit einem Gesuche an Sie wenden musste, lässt mich heute den letzten Schritt thun und die Bitte aussprechen, aus meiner bisherigen Stellung als Lehrer an der Universität ausscheiden zu dürfen. Die inzwischen immer noch
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