Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
befand. Sie konnte und wollte diesen Freundschaftsbruch nicht akzeptieren, der äußerlich bislang nicht vollzogen war. Nietzsche hatte dem Maestro noch nach den Festspielen und vor seiner Abreise nach Sorrent folgende Bestandsaufnahme im Zusammenhang seiner Leiden und seiner Zukunft geschrieben: «Ich habe in den letzten Jahren, dank der Langmütigkeit meines Temperamentes, Schmerzen über Schmerzen eingeschluckt, wie als ob ich dazu und zu nichts weiterem geboren wäre. Der Philosophie, welche dies etwa lehrt, habe ich praktisch meinen Tribut in reichem Maße gezahlt. Diese Neuralgie geht so gründlich, so wissenschaftlich zu Werke, sie sondiert förmlich, bis zu welcher Grenze ich den Schmerz aushalten kann, und nimmt sich zu dieser Untersuchung jedesmal dreißig Stunden Zeit … Sie sehen, es ist die Krankheit eines Gelehrten …» «Nun habe ich es satt» , schließt er mit Nachdruck, «ich will gesund leben oder nicht mehr leben.» So sein Entschluss. Er war trügerisch. Zwar erlebte er in Sorrent ein halbes Jahr lang eine traumhafte Zeit mit schöner Geistesgemeinschaft und guten Gesprächen, einer Klostergemeinschaft für freie Geister, wie er sie sich erträumte, mit Erholung aber doch auch, guten, schmerzfreien Zeiten und inspirierenden Eindrücken. Aber die Anfälle kamen wieder, und seine Krankheit war damit erwiesenermaßen nicht bedingt und hervorgerufen durch Überarbeitung in seinem Baseler Amt. Im Februar 1877 konsultierte Friedrich Nietzsche in Neapel, nachdem er dort sogar den Karneval erstaunlich genossen hatte, einen deutschen Facharzt, und er kam äußerst niedergeschlagen nach diesem Arztbesuch zu Malwida zurück. Entweder, so der Arzt, könne das Übel ganz plötzlich aufhören, oder es könne eine beinahe völlige Schwächung der Gehirntätigkeit zur Folge haben, wenn er sich nicht fortan einer vollständigen Schonung anheimgebe. Diese Prognose beschwor Nietzsches schlimmste Befürchtungen im Zusammenhang mit seiner familiären Disposition und dem Leiden des Vaters herauf: Gehirnschlag, allmähliches Siechtum, Verblödung, Pflegebedürftigkeit, vorzeitiger Tod. Vom Moment dieser hypothetischen Diagnose an nach dem so schönen halben Jahr in Italien im Kreis seiner Freunde hat Nietzsche eigentlich jede Hoffnung verloren, dass er noch einmal gesund werden könnte. In Italien fand auch seine letzte Begegnung mit Richard Wagner statt – in Sorrent. Umstände, Vorgeschichte und auch die Szene selbst sind etwas geheimnisumwittert. Die Schwester hat sie später unmäßig aufgebauscht. Wagner und Nietzsche selbst geben wenig zu Protokoll, was passiert ist: wie oft sie etwa in Sorrent in gemeinsamer Geselligkeit waren, ob und welche Gespräche stattfanden, ob man sich wirklich, wie es dann feststand für die phantasiebeflissene Nachwelt, die für so etwas Bilder braucht, in der Dämmerung trennte, als Wagner anfing, von der Ausführung seines «Parsifal» zu berichten. Wagners Hinwendung zum Christentum in seiner späten Zeit war nichts Neues für Nietzsche. Aber der «Parsifal» wurde für ihn die Spitze des Eisbergs. «Schon im Sommer 1876», schreibt Nietzsche in seiner Schrift «Nietzsche contra Wagner», «mitten in der Zeit der ersten Festspiele, nahm ich bei mir von Wagner Abschied. Ich vertrage nichts Zweideutiges; seitdem Wagner in Deutschland war, kondeszendierte er Schritt für Schritt zu allem, was ich verachte – selbst zum Antisemitismus … Es war in der Tat damals die höchste Zeit, Abschied zu nehmen: alsbald schon bekam ich den Beweis dafür. Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste, in Wahrheit ein morsch gewordner verzweifelnder décadent, sank plötzlich, hilflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder …» Im Januar 1878 sandte Wagner Nietzsche seinen «Parsifal» zu, während dieser ihm – quasi zeitgleich – den gerade erschienenen ersten Teil von «Menschliches, Allzumenschliches» übersandte. In «Ecce homo» schreibt Nietzsche: «Diese Kreuzung der zwei Bücher – mir war’s, als ob ich einen ominösen Ton dabei hörte. Klang es nicht, als ob sich Degen kreuzten! … Jedenfalls empfanden wir es beide so: denn wir schwiegen beide. – Um diese Zeit erschienen die ersten Bayreuther Blätter. Ich begriff, wozues höchste Zeit gewesen war. – Unglaublich! Wagner war fromm geworden …»
Dabei sieht Meysenbug, die Vermittelnde, die so gerne die Sternenfreundschaft dieser beiden Großen in ihrem Fortgang auf der Erde erlebt hätte, selbst im «Parsifal»
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