Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
gewachsene äusserste Schmerzhaftigkeit meines Kopfes, die immer grösser gewordene Einbusse an Zeit, welche ich durch die zwei- bis sechstägigen Anfälle erleide, die von neuem (durch Hrn. Prof. Schiess) festgestellte erhebliche Abnahme meines Sehvermögens, welches mir kaum noch zwanzig Minuten erlaubt ohne Schmerzen zu lesen und zu schreiben – diess Alles zusammen drängt mich einzugestehen, dass ich meinen akademischen Pflichten nicht mehr genügen, ja ihnen überhaupt von nun an nicht nachkommen kann, nachdem ich schon in den letzten Jahren mir manche Unregelmässigkeit in der Erfüllung dieser Pflichten, jedes Mal zu meinem grossen Leidwesen nachsehen musste. Es würde zum Nachtheile unserer Universität und der philologischen Studien an ihr ausschlagen, wenn ich noch länger eine Stellung bekleiden müsste, der ich jetzt nicht mehr gewachsen bin; auch habe ich keine Aussicht mehr in kürzerer Zeit auf eine Besserung in dem chronisch gewordenen Zustande meines Kopfleidens rechnen zu dürfen, da ich nun seit Jahren Versuche über Versuche zu seiner Beseitigung gemacht und mein Leben auf das Strengste darnach geregelt habe, unter Entsagungen jeder Art – umsonst wie ich mir heute eingestehen muss, wo ich den Glauben nicht mehr habe meinen Leiden noch lange widerstehen zu können. So bleibt mir nur übrig, unter Hinweis auf § 20 des Universitätsgesetzes, mit tiefem Bedauern den Wunsch meiner Entlassung auszusprechen, zugleich mit dem Danke für die vielen Beweise wohlwollender Nachsicht, welche die hohe Behörde mir vom Tage meiner Berufung an bis heute gegeben hat. Indem ich, hochgeachteter Herr Präsident, Sie bitte Fürsprecher meines Gesuchs zu sein, bin und verbleibe ich in vorzüglicher Verehrung Ihr ganz ergebener Dr. Friedrich Nietzsche, Professor o. p.» Auch dieser offizielle Brief war diktiert, da Nietzsche das Schreiben kaum noch vermochte.
Paul Widemann in Chemnitz las vom 6. Mai von Nietzsche den lakonischen Satz: «Ich habe meine Professur niedergelegt und gehe in die Höhen – fast zur Verzweiflung gebracht und kaum noch hoffend.» Es war der Sommer seines ersten Aufenthalts im Oberengadin, ausgehend von St. Moritz in Graubünden, der, wie er damals noch glaubte, für ihn eine Wende war – ein Klima und eine Höhe, die ihm ganz einzigartig bekam. Zwar schrieb er Overbeck auch von hier (11. Juli): «Liebe Freunde, ich bin hier soviel krank wie überall und habe schon 8 Tage zusammen zu Bett gelegen» , aber es überwiegt doch der Tenor, dass es ihm hier besser gehe als irgendwo sonst. Am 21. Juli konnte die Mutter erfahren: «St. Moritz ist der einzige Ort, der mir entschieden wohlthut – täglich, bei gutem und schlechtem Wetter, bin ich dieser Luft dankbar.» Und so sollte es im Wesentlichen auch bleiben. Tief beunruhigt trug Nietzsche der Schwester allerdings auf, Näheres über Wagners Winterreise nach Neapel, Zeit, Reiseroute etc. in Erfahrung zu bringen, da ein Zusammentreffen unbedingt zu vermeiden sei. Niemand solle im Übrigen seinen eigenen Aufenthalt wissen. Wenn Elisabeth aber irgendjemandem Auskunft gebe über ihn, sein Befinden und seine Aussichten, so solle sie schon allen mitteilen, es habe lebensgefährlich um ihn gestanden, und die rationellen Kurmethoden seien erschöpft. «Sehr stark» solle sie diese Auskunft über seine Gesundheit verbreiten. Er will nicht vergessen werden, der im Martyrium befindliche Denker, sondern sein Leiden in Würde und Pietät anerkannt sehen. «Diese herrlichen Wälder!» , schrieb er Elisabeth am 12. Juli aus St. Moritz, «Ich bin 7–8 Stunden täglich im Freien» , und Paul Rée erhielt Ende Juli noch einen kurzen Rapport, der sein Ergehen während der letzten Wochen und Monate resümiert sowie seinen Status quo als Dauerkranker in exklusiv hoher Lage. «Mein geliebter Freund, Sie wissen wohl im Ganzen, wie es mit mir gestanden hat? Ein paar Mal den Pforten des Todes entwischt, aber fürchterlich gequält – so lebe ich von Tag zu Tage, jeder Tag hat seine Krankheits-Geschichte. Ich habe jetzt die beste und mächtigste Luft Europa’s zu athmen und liebe den Ort, an dem ich weile: St. Moritz in Graubünden. Seine Natur ist der meinigen verwandt, wir wundern uns nicht über einander, sondern sind vertraulich zusammen. Vielleicht thut’s gut so – immerhin, ich halte es ein wenig besser hier als anderswo aus.» Ein Buch wolle er, ob Rée ihm eins schicken könne, und er nennt keinen Titel, überlässt es dem Freund, ein lehrreiches,
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