Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Rosalie in Naumburg formuliert worden sein könnten: (529) «Die Länge des Tages. – Wenn man viel hineinzustecken hat, so hat ein Tag hundert Taschen.» Oder (402): «Probe einer guten Ehe. – Die Güte einer Ehe bewährt sich dadurch, daß sie einmal eine ‹Ausnahme› verträgt.» Oder (398) «Schamhaftigkeit. – Mit der Schönheit der Frauen nimmt im allgemeinen ihre Schamhaftigkeit zu.» Überhaupt entstammen die meisten Gemeinplätze in dieser Sammlung der Rubrik: «Weib und Kind», angesichts derer wahrscheinlich auch die Frauenrechtlerin Malwida von Meysenbug verzweifelt die Augen gen Himmel hob, da ihr «Knäblein» doch von alledem gar keine Ahnung hatte und folglich nur Dinge zum Besten gab, die den gängigen Übereinkünften, Klischees und Vorurteilen entstammten. Seiner Meinung nach war es um intellektuelle Frauen ohnehin folgendermaßen bestellt: «Wenn ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich etwas an ihrer Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung.» Mit seiner Geschlechtlichkeit war vermutlich so einiges nicht in Ordnung, doch darauf geht er natürlich nicht ein. Jedenfalls fragt er im Aphorismus 426: «Freigeist und Ehe. – Ob die Freigeister mit Frauen leben werden? Im allgemeinen glaube ich, daß sie, gleich den wahrsagenden Vögeln des Altertums, als die Wahrdenkenden, Wahrheit-Redenden der Gegenwart es vorziehen müssen, allein zu fliegen.» Das war nun ein Statement. Aber weibliche Freigeister scheint es demnach per definitionem überhaupt nicht zu geben.
In Peter Gast alias Heinrich Köselitz hatte Nietzsche nicht nur einen neuen Mitarbeiter und Freund, sondern auch einen dienstbaren Geist gefunden, dem er, wenn er vor lauter Kopfweh und Augenschmerzen, da auch die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen, nichts mehr vermochte, doch noch in den kurzen Pausen zwischen den Anfällen in die Feder diktieren und Korrekturarbeiten übergeben konnte, während er mit einer Augenbinde in einem abgedunkelten Zimmer lag. Gast hatte eine gestochene Handschrift, und er war außerdem Komponist. Eine Zeitlang kultivierte Nietzsche die Vorstellung, Peter Gasts Kompositionen könnten Wagner und die Romantik überwinden und eine echte Alternative dazu bereitstellen. Gut einen Monat vor seinem Geburtstag 1879 schrieb Nietzsche an Gast (11./12. September): «Ich bin am Ende des 35sten Lebensjahres; die ‹Mitte des Lebens›, sagte man anderthalb Jahrtausende lang von dieser Zeit; Dante hatte da seine Vision und spricht in den ersten Worten seines Gedichts davon. Nun bin ich in der Mitte des Lebens so ‹vom Tod umgeben›, daß er mich stündlich fassen kann; bei der Art meines Leidens muß ich an einen plötzlichen Tod, durch Krämpfe, denken (obwohl ich einen langsamen klarsinnigen, bei dem man noch mit seinen Freunden reden kann, hundertmal vorziehen würde, selbst wenn er schmerzhafter wäre). Insofern fühle ich mich jetzt dem ältesten Manne gleich; aber auch darin, daß ich mein Lebenswerk gethan habe. Ein guter Tropfen Oeles ist durch mich ausgegossen worden, das weiß ich, und man wird es mir nicht vergessen.» Trotz seiner Leiden, so fuhr er fort, sei in seinen Werken kein Leidensdruck, sondern Kraft – und er meint Lebensbejahung. Das war ihm wichtig zu unterscheiden. Am 2. Mai hatte er sein Entlassungsgesuch von der Universität an den Regierungspräsidenten von Basel gerichtet. Er hatte nun noch zehn geistig bewusste, dem Schaffen gewidmete Jahre, bis er als Wanderer in die Schattenwelt ging.
St. Moritz/Venedig/Genua/Sils Maria/Rapallo,
1879–1883
«Der Wanderer und sein Schatten»
1879 , das Jahr seiner beginnenden Wanderschaft, war für Friedrich Nietzsche eine einzige Qual. Das Frühjahr barg eventuell noch die Hoffnung auf Besserung, Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit, Reisen, um in milder Luft, guter Höhenlage, gesundem Klima eine gewisse Stabilität zu erlangen, doch seine Hoffnungen wurden immer wieder enttäuscht. Stattdessen: furchtbare Anfälle, qualvolle Schmerzen. Nietzsche war 34 Jahre alt, doch die Briefe und Postkarten, die er bis Jahresende aus Basel, Naumburg und aus den schönsten Gegenden diesseits und jenseits der Alpen verschickte, klangen stellenweise wie die eines Menschen, der nur noch aufs Ende hofft oder den Weg dahin wie ein periodisches Martyrium erlebt. Mit Köselitz, der ja «Menschliches, Allzumenschliches» fast vollständig nach seinem Diktat geschrieben und auch redigiert hatte, plante er vor der Herausgabe des Buches einen gemeinsamen
Weitere Kostenlose Bücher