Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Ihren Nerven liegt’s nicht, ich selber bin nur nervös.› Schlechterdings unnachweisbar irgendeine lokale Entartung; kein organisch bedingtes Magenleiden, wie sehr auch immer, als Folge der Gesamterschöpfung, die tiefste Schwäche des gastrischen Systems. Auch das Augenleiden, dem Blindwerden zeitweilig sich gefährlich annähernd, nur Folge, nicht ursächlich: sodass mit jeder Zunahme an Lebenskraft auch die Sehkraft wieder zugenommen hat. – Eine lange, allzu lange Reihe von Jahren bedeutet bei mir Genesung – sie bedeutet leider auch zugleich Rückfall, Verfall, Periodik einer Art décadence. Brauche ich, nach alledem, zu sagen, dass ich in Fragen der décadence erfahren bin? Ich habe sie vorwärts und rückwärts buchstabiert. Selbst jene Filigran-Kunst des Greifens und Begreifens überhaupt, jene Finger für nuances, jene Psychologie des «Um-die-Ecke-sehns» und was sonst mir eignet, ward damals erst erlernt, ist das eigentliche Geschenk jener Zeit, in der alles sich bei mir verfeinerte, die Beobachtung selbst wie alle Organe der Beobachtung. Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werten, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts – das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgendworin wurde ich darin Meister. Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine ‹Umwertung der Werte› überhaupt möglich ist» Das ist eine Stilisierung im Rückblick, die die Werkfolge des Autors in die verschiedenen Perioden seiner Krankheitsschübe und der darauf folgenden Genesungen einbindet – die Eine schließlich, die als «große Gesundheit» der Kulminationspunkt aller Entwicklungen ist. Kranksein als Stimulans zum Leben, zum Mehrleben, lautet die von den «Spätlingen» des Fin-de-siècle rezipierte Kernaussage, und im Sinne seiner vitalistischen Philosophie stilisiert er die Wendung einer energischen Selbstzucht, um nur jeden Verdacht zu eliminieren, er sei ein auf Verzärtelung und Morbidität ausgerichteter Décadent. Mitnichten. Eine verborgene Instinkt-Gewissheit evozierte damals seine gehörige Selbst-Wiederherstellung, und so waren auch seine Werke, wie er selbst in diesem Schmerzensjahr 1879 gegenüber Ernst Schmeitzner in Chemnitz betont, bezogen auf «Menschliches, Allzumenschliches», Werke «voller Gesundheit» . Stilisiert ist mit Sicherheit die Parallelsetzung des physischen Niedergangs in seiner Biographie mit der seines Vaters. Im sechsunddreißigsten Lebensjahr sei dieser jeweils erfolgt. Nietzsche befand sich 1879 aber, wenigstens bis zum 15. Oktober, im fünfunddreißigsten Jahr, also passte es nicht ganz. Wie dem auch sei. «Im sechsunddreißigsten Lebensjahre kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität – ich lebte noch, doch ohne drei Schritte weit vor mich zu sehn. Damals – es war 1879 – legte ich meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, als Schatten in Naumburg. Dies war mein Minimum: ‹Der Wanderer und sein Schatten› entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten …»
«Der Wanderer und sein Schatten», der 1880 auch als Einzelveröffentlichung erschien, wird von zwei Dialogen umrahmt, die der Wanderer in hoher Gebirgslandschaft mit seinem Schatten führt. Es ist ein äußerst spezieller Gesprächspartner dieses einsamen Wanderers, an dem er aber doch nicht vorbeikommt. Ohne Frage: Er muss sich mit diesem anderen «Ich» oder was immer es ist, konfrontieren, muss sich den Fragen stellen, die die Schattenwelt an ihn richtet – ist sie doch ebenso Teil des Ganzen wie das Licht, und zusammen produzieren beide alles, was lieb und wert ist: Schönheit des Gesichts, Deutlichkeit der Rede, Güte und Festigkeit des Charakters; alles, was dasteht, Konturen und Gegenwart hat. «Jener Schatten, welchen alle Dinge zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntnis auf sie fällt, – jener Schatten bin ich auch» , sagt der geheimnisvolle Gesprächspartner zu dem einsamen Wanderer. Der Schatten hat auch bei Nietzsche eine ambivalente Bedeutung. Er hat etwas Abgelebtes, das gleichsam nach Wiederkehr drängt. Von der Hadeswelt und der Schattenwerdung des Menschen schwebt etwas in ihm. Dieser Wiedergänger tritt damit als Abglanz auf,
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