Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
Vom Netzwerk:
womöglich englischer Herkunft, aber ins Deutsche übersetzt und mit gutem Druck. «Ich lebe ganz ohne Bücher, als Sieben-Achtel-Blinder, aber ich nehme gerne die verbotene Frucht aus Ihrer Hand.» Als Adresse nennt er dem Freund: «St. Moritz, Graubünden Schweiz, poste restante, Friedrich Nietzsche, ehemals Professor, jetzt fugitivus errans.» Ende August aber änderte sich seine Stimmung rapide, da offenkundig wurde, dass auch dieses gemäßigte Hochgefühl an dem besonderen Ort nicht von Dauer war. Mutter und Schwester gab er nun unverhüllt zu erkennen, dass das Leben mit all seinen Einschränkungen, das ihm vermutlich noch blieb, dauerhaft auch nicht durch besondere Orte gehoben werden konnte, und nach neuen schlechten Tagen und Anfällen marterten ihn Überdruss, Hoffnungslosigkeit und eine nicht mehr erträgliche Einsamkeit. 29. August an Franziska Nietzsche in Naumburg: «Ich habe das viele Spazierengehen (ich bin 8 Stunden täglich im Freien!) so satt, meine Augen wollen Halbdunkel, und dann recht viel Vorlesen, damit ich nicht immer nachdenke – meine einzige Beschäftigung außer meinen ewigen Schmerzen. Lesen kann ich nicht, mit Menschen verkehren kann ich nicht, die Natur hier kenne ich auswendig, sie zieht mich nicht ab.» «Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen» lautete sein Post-scriptum. Der Schwester gegenüber reagierte er geradezu gereizt, nachdem sie ihm eine gerade kursierende Behandlungsmethode, die «Mattei-Kur», ans Herz gelegt hatte. Er habe das alles schon ausprobiert, und auch wenn es spektakuläre Erfolgsberichte mit dieser Kur gebe, so beweise ihm das für seinen Fall nichts. «Ich habe es so satt. Den 20 Sept(ember) wollte ich nach Naumburg abreisen. Es ist alles einerlei. Nicht mehr spazierengehen, von früh bis Abend vorlesen hören und keinen Augenblick mehr allein sein, aus zehnerlei Gründen.» Im spätjahreszeitlichen Naumburg entwickelte sich Nietzsches Verfassung zu neuer Tiefform, und so schrieb er Ernst Schmeitzner in Chemnitz am 18. Dezember, wenige Tage vor dem von jeher kritischen Weihnachtsdatum und in Kälte und Dunkelheit: «Ich leide außerordentlich und beständig, Anfälle über Anfälle. Ich denke an eine Flucht nach dem Süden – vielleicht nach dem Gardasee. Aber vielleicht giebt es keinen ‹Süden› mehr.» Dem ehemaligen Kollegen Overbeck teilte er wenige Tage vor dem Jahreswechsel am 28. mit: «Der Zustand war zum Entsetzen, der letzte Anfall von drei tägigem Erbrechen begleitet, gestern eine bedenklich lange Bewußtlosigkeit.» Dass er im zurückliegenden Jahr auf 118 Tage schwerer Anfallstage komme, wie er der Schwester am Folgetag schrieb, zeigt, dass er seine Krankheit akribisch dokumentierte. «Es liegt eine schwere schwere Last auf mir» , lautet der Endkommentar am drittletzten Tage des Jahres.
    Der Dunkelheit abgetrotzt war das Werk dieser Jahre, und so wollte es Nietzsche verstehen. Er trug hier sein Kreuz. Unmissverständlich sind die Reminiszenzen, die ein wenig daran erinnern, wie er die pathologische Sensibilität seines Vater-Erbes als ein Vorrecht bezeichnete, das er fast mit dem Leben bezahlte – «gewiß kein unbilliger Handel» . Das Martyrium gibt seinem Geist erst die richtige Hellsicht. «Die Jahre meiner niedrigsten Vitalität» , stellt er in «Ecce homo», seinem autobiographischen Rechenschaftsbericht fest, «waren es, wo ich aufhörte, Pessimist zu sein.» Hieraus entstand erst sein Wille zur großen Gesundheit, zum Leben und damit das Endbekenntnis seiner Philosophie. «Mitten in Martern» , schildert er, als er die Entstehungsbedingungen seiner «Morgenröte» beschreibt, «die ein ununterbrochener dreitägiger Gehirn-Schmerz samt mühseligem Schleim-Erbrechen mit sich bringt – besaß ich eine Dialektiker-Klarheit par excellence und dachte Dinge sehr kaltblütig durch, zu denen ich in gesünderen Verhältnissen nicht Kletterer, nicht raffiniert, nicht kalt genug bin. Meine Leser wissen vielleicht, inwiefern ich Dialektik als Décadence-Symptom betrachte, zum Beispiel im allerberühmtesten Fall: im Fall des Sokrates. – Alle krankhaften Störungen des Intellekts, selbst jene Halbbetäubung, die das Fieber im Gefolge hat, sind mir bis heute gänzlich fremde Dinge geblieben, über deren Natur und Häufigkeit ich mich erst auf gelehrtem Wege zu unterrichten hatte. Mein Blut läuft langsam. Niemand hat je an mir Fieber konstatieren können. Ein Arzt, der mich länger als Nervenkranken behandelte, sagte schließlich: ‹Nein!, an

Weitere Kostenlose Bücher