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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
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oder um es zu werden. Und da er auch meistens in der dunklen Jahreszeit hier war, kamen ihm in Naumburg die düstersten Gedanken. Von hier aus schrieb er Anfang Januar 1880 Dr. Eiser nach Frankfurt: «Meine Existenz ist eine fürchterliche Last: ich hätte sie längst von mir abgeworfen, wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig-sittlichem Gebiete gerade in diesem Zustand des Leidens und der fast absoluten Entsagung machte – diese erkenntnißdurstige Freudigkeit bringt mich auf Höhen, wo ich über alle Marter und Hoffnungslosigkeit siege.» An Malwida von Meysenbug schrieb er in dieser Stimmung gar einen Abschiedsbrief: «Obwohl Schreiben für mich zu den verbotensten Früchten gehört, so müssen Sie, die ich wie eine ältere Schwester liebe und verehre, doch noch einen Brief von mir haben – es wird doch wohl der letzte sein! Denn die furchtbare und fast unablässige Marter meines Lebens läßt mich nach dem Ende dürsten, und nach einigen Anzeichen ist mir der erlösende Hirnschlag nahe genug, um hoffen zu dürfen. Was Qual und Entsagung betrifft, so darf sich das Leben meiner letzten Jahre mit dem jedes Asketen irgend einer Zeit messen; trotzdem habe ich diesen Jahren viel zur Läuterung und Glättung der Seele abgewonnen – und brauche weder Religion und Kunst mehr dazu.» Es wurde besser mit der Jahreszeit und mit den Orten, aber nirgends war Nietzsche ganz selbstvergessen, und nirgends war er ganz außer Gefahr. Den April, den Mai und den Juni 1881 verbrachte er in Recoaro bei Vicenza. «Recoaro ist, als Landschaft» , schrieb er, «eine meiner schönsten Erfahrungen, ich bin seiner Schönheit recht nachgelaufen und habe viel Mühe und Eifer verwendet.» Dann aber heißt es auch – rückblickend: «Es war eine böse und gefährliche Zeit, ich bin aus Recoaro kaum mit dem Leben davon gekommen.» «Aber mit den Orten ist es jetzt bei mir ein reines Experimentieren, an den meisten gehe ich zugrunde – es kommen Bedingungen in Betracht, die eben nur bei meiner Art von Natur so entscheidend sind (die der atmosphärischen Elektricität); darauf hin muß ich die Orte ausprobiren. Basel Naumburg Genf Baden-Baden, fast alle Gebirgsorte, die ich kenne, Marienbad, die italiänischen Seen u.s.w. sind Orte zum Zugrundegehen. Der Winter am Meere ist erträglich, das Frühjahr (Sorrent und Genua) fortwährendes Leiden (wegen der unstäten Bewölkung).»
    Nietzsche schrieb diesen Brief aus Sils Maria, und zwar am 7. Juli 1881 an seine Schwester. Etwas, so spürt man gleich, war hier anders geworden. Er hatte den Ort durch Zufall entdeckt. Wieder in St. Moritz angekommen, wo es ihm auf Dauer zu teuer war und wo ihn auch schlimme Erinnerungen an Zeiten der Marter in der Vergangenheit heimsuchten, war er drauf und dran, das Engadin wieder verlassen zu wollen, als sich ein junger Einheimischer um ihn bemühte und ihm schließlich das «stille Plätzchen» vermittelte, das ihn sofort wie eine Oase in seinem gedrückten Leben anmutete. «Ich habe es noch nie so ruhig gehabt» , stellte er fest, «und die Wege, Wälder, Seen, Wiesen sind wie für mich gemacht.» «Hier im Engadin ist mir bei weitem am wohlsten auf Erden: zwar die Anfälle kommen hierher wie überall hin, aber viel milder und menschlicher. Ich habe eine fortwährende Beruhigung und keinen Druck, wie sonst überall; die Aufregung hört hier für mich auf. Ich möchte alle Menschen bitten, ‹erhaltet mir nur die 3, 4 Monate Engadiner Sommer, sonst kann ich wirklich das Leben nicht länger ertragen.›» Das Haus, in dem Nietzsche ein Stübchen mit einfachster Ausstattung mietete, gehörte damals der Familie Durisch, die den Professor von nun an regelmäßig über die Sommermonate beherbergte. Das Zimmer kostete einen Franken pro Tag. Es lag nach hinten hinaus, zu einer Felswand, und war relativ dunkel; Nietzsches empfindliche Augen wurden in dieser «Höhle» geschont. Die Familie betrieb ein kleines Bergbauerngut und führte darüber hinaus einen Spezereiladen im Haus, in dem Nietzsche sich Tee, Corned Beef, englische Biskuits, Seife und alles mögliche, wie er schrieb, kaufen konnte, während er seine Mahlzeiten in einem der benachbarten Hotels einnahm. Seine Gastleute waren ihm freundlich gesonnen. Töchterchen Adrienne, damals vier Jahre alt, hatte es ihm angetan, und die Kleine war anscheinend auch äußerst zutraulich zum Herrn Professor. Der gemarterte Wanderer umgab und heilte sich hier mit den einfachsten Lebensgrundlagen:

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