Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Quellwasser, einfache Kost, bodenständige Menschen, Wanderungen am See entlang nach Silvaplana, Hochgebirgsluft und eine Landschaft, die er vom ersten Augenblick an als Seelenlandschaft empfand, als ihm zutiefst wesensverwandt. In seinem Buch «Der Wanderer und sein Schatten», das zwei Jahre zuvor im benachbarten St. Moritz entstanden war, heißt es: «In mancher Natur-Gegend entdecken wir uns selber wieder, mit angenehmem Grausen; es ist die schönste Doppelgängerei. – Wie glücklich muss Der sein können, welcher jene Empfindung gerade hier hat, in dieser beständigen sonnigen Octoberluft, in diesem schalkhaft glücklichen Spielen des Windzuges von früh bis Abend, in dieser reinsten Helle und mässigsten Kühle, in dem gesammten anmuthig ernsten Hügel-, Seen- und Wald-Charakter dieser Hochebene, welche sich ohne Furcht neben die Schrecknisse des ewigen Schnees hingelagert hat, hier wo Italien und Finnland zum Bunde zusammengekommen sind und die Heimath aller silbernen Farbentöne der Natur zu sein scheint: – wie glücklich Der, welcher sagen kann: ‹es giebt gewiss viel Grösseres und Schöneres in der Natur, dieses aber ist mir innig und vertraut, blutsverwandt, ja noch mehr.›» Endlich also schien der Wanderer fündig geworden zu sein. Eine geheimnisvolle Affinität bestand zwischen ihm und dieser Landschaft, und es breitete sich eine Euphorie in ihm aus, die er als Vorbereitungsstimmung zu einem bedeutsamen schöpferischen Vorgang empfand. «Ich erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra», so Nietzsche in «Ecce homo». «Die Grundkonzeption des Werks, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, die höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: ‹6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit›. Ich ging an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block unweit Surlei machte ich halt. Da kam mir dieser Gedanke.» In der retrospektiven Darstellung erhält die «Empfängnis» des Werks, das heißt seines Kerngedankens, sofort eine Einbindung in eine Vor- und Nachgeschichte, die genauso geheimnisumwittert und bedeutsam erscheinen wie das eigentliche Erweckungserlebnis. Einige Monate von diesem Tage zurückgerechnet, so Nietzsche, trat als Vorzeichen eine plötzliche und im Tiefsten entscheidende Veränderung seines Geschmacks in der Musik ein – und der «Zarathustra» sei ja unter die Musik zu rechnen, so meint er. Eine spezifische Wiedergeburt in der Kunst sei die Voraussetzung für ihn gewesen. Zusammen mit seinem Freund Peter Gast, seinem «Maestro» , dem er dann doch im selbstbetrügerischen Sinn etwas zu viel Ehre antut, einem ebenfalls «Wiedergeborenen» jedenfalls, entdeckte er im Frühling 1881 in Recoaro unweit von Vicenza, dass der Phönix Musik mit leichterem und leuchtenderem Gefieder als je an ihnen vorüberflog. Das war eine Wiedergeburt der Musik jenseits von Richard Wagner; jedenfalls stilisierte es Nietzsche hier so. Von jenem Tage an, dem Zarathustra-Tag, vorwärtsgerechnet bis zur plötzlichen «Niederkunft» im Februar 1883, seien dagegen 18 Monate «Schwangerschaft» zu beziffern (wie bei Elefantenweibchen, bemerkt der Denker noch mit einigem Witz, und wie bei Buddha, der, indischer Mythologie zufolge, von einem Elefantenweibchen geboren wurde), und die Schluss partie seines Werks erstellte er punktgenau in der «heiligen Stunde» , in der Richard Wagner in Venedig starb. So viel zur Mythisierung der Entstehungsgeschichte des «Zarathustra». Den Spaziergang nach Silvaplana bis zum berühmten Stein von Surlej, den Nietzsche, ein unsicherer und extrem kurzsichtiger Wanderer, vermutlich nicht über die Marmorè, sondern vom Dorfausgang aus am Seeufer entlang unternommen hat, kann man nachvollziehen, und der imposante, zugleich meditative Eindruck der Landschaft, den Nietzsche beschreibt, wird dem empfänglichen Wanderer sicher bewusst. Es muss aber gar nicht die Stelle selbst sein, der pyramidale Block am Seeufer von Silvaplana. Auch die Chasté, eine der Halbinseln des Silser Sees auf der anderen Seite, wo Nietzsche sich seine «ideale Hundehütte» bauen will, wie er an Gersdorff schreibt, um dort zu wohnen, wo seine Musen wohnen, veranschaulicht dem Spaziergänger auf Nietzsches Spuren das Erweckungserlebnis durch diese Landschaft, und hier, auf der Halbinsel, sind heute Zarathustras Verse verewigt, nicht an dem
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