Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Punkt bei Surlej. Es ist die Landschaft als Ganzes, die ihn umgibt, und in der die Gedanken des Philosophen sich auf so einzigartige Weise prismatisieren. Immer wieder versucht er diese Landschaft zu charakterisieren, die sogar alles Ländertypische und die gewohnten geographischen Einordnungen transzendiert. Finnland und Italien im Bunde, das klingt freilich sehr außergewöhnlich. «Das ist keine Schweiz» , meint er, «kein Recoaro, etwas ganz Anderes, jedenfalls etwas viel Südlicheres, – ich müßte schon nach den Hochebenen von Mexiko am stillen Ozeane gehen, um etwas Ähnliches zu finden (z.B. Oaxaca) und da allerdings mit tropischer Vegetation.»
An welchem Tag genau war das Erlebnis? Ein Tag im August war es und ein Tag vor dem 14., da er sein Erlebnis im jüngsten Rückblick beschreibt. Es ist Vormittag, heller Vormittag, vielleicht zwischen elf und zwölf Uhr, wenn die Sonne so hoch steht, dass sie ihren höchsten Punkt fast erreicht hat. Der See ist glatt wie ein Spiegel, Felsen, Wolken und Himmel, die Wälder und das Gebirge wiedergebend auf seiner Fläche. Der pyramidale Block aus Granit steht im Vordergrund. Goethe, der Geologe aus Liebhaberei, hat einen sinnfälligen kleinen Aufsatz geschrieben über den Granit als Grundfeste unserer Erde, worauf sich alle übrigen mannigfaltigen Gebirge hinaufbildeten, über den ältesten, festesten, tiefsten und unerschütterlichsten Sohn der Natur, der dem Dichter doch auch ein Gegenmodell war zur Veränderlichkeit des menschlichen Herzens. «So einsam, sage ich zu mir selber» , heißt es bei Goethe, «indem ich diesen ganz nackten Gipfel hinabsehe und kaum in der Ferne am Fuße ein geringwachsendes Moos erblicke, so einsam, sage ich, wird es dem Menschen zumute, der nur den ältesten, tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele eröffnen will.» Ging es Nietzsche hier ähnlich? Die Sonne stand hoch, kurz vor dem Gipfelpunkt, und es war ja auch der Mittag des Lebens und der Erkenntnis. Vielleicht handelte es sich nur um einen Moment, und der Wanderer wandte sich ab, ging ins Dorf zurück, aber doch als Verwandelter. An Köselitz in Venedig schrieb er dann folgenden denkwürdigen Brief: «Sils Maria den 14 August 1881. Nun, mein lieber guter Freund! Die Augustsonne ist über uns, das Jahr läuft davon, es wird stiller und friedlicher auf den Bergen und in den Wäldern. An meinem Horizonte sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehn habe – davon will ich nichts verlauten lassen, und mich selber in einer unerschütterlichen Ruhe erhalten. Ich werde wohl einige Jahre noch leben müssen! Ach, Freund, mitunter läuft mir die Ahnung durch den Kopf, daß ich eigentlich ein höchst gefährliches Leben lebe, denn ich gehöre zu den Maschinen, welche zerspringen können! Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schaudern und lachen – schon ein Paarmal konnte ich das Zimmer nicht verlassen, aus dem lächerlichen Grunde, daß meine Augen entzündet waren – wodurch? Ich hatte jedesmal den Tag vorher auf meinen Wanderungen zuviel geweint, und zwar nicht sentimentale Thränen, sondern Thränen des Jauchzens; wobei ich sang und Unsinn redete, erfüllt von einem neuen Blick, den ich vor allen Menschen voraus habe.» Hochsommer war’s, kalendarisch gesehen, aber im Hochgebirge, den adäquaten Gefilden des philosophischen Wanderers, herrschten Ausnahmetemperaturen: acht Grad Réaumur (zehn Grad Celsius) in seinem Zimmer, berichtete Nietzsche der Mutter. Die Luft in diesen Höhen, 1800 Meter über dem Meer, ist für Kopfschmerzpatienten eigentlich ganz ungeeignet, und so mag auch das, das Klima, das Nietzsches Gesundheit angeblich so förderlich war, nicht zuletzt Selbstsuggestion sein und ein Teil der Mystifizierung seines Zarathustra-Erlebnisses. Dass es ihm auch hier gar nicht gut ging, geht aus den nachfolgenden Briefen hervor – aus Genua schreibt er im Oktober sogar von einem «Martyrium» der vergangenen, Sils Maria definitiv einbeziehenden Monate. Aber der philosophische Wanderer empfing hier seinen großen Gedanken, und deshalb bewahrte er dem Ort und der Landschaft für immer ein dankbares Andenken. Vielleicht hat auch der Umgang mit der kleinen Adrienne dazu beigetragen, dass Nietzsche die Bedeutung des Heraklitischen Spiels und der daraus resultierende Unschuldsbegriff wieder so spürbar wurde. Seinen Notizbüchern entnehmen wir: «Es wäre entsetzlich, wenn wir noch an die Sünde glaubten: sondern was wir auch thun werden, in
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