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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
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Aufenthaltsorte: Ein südlich heiterer Himmel sollte es sein, aber nicht zu viel Sonne, Seeklima, aber nicht so viel Feuchtigkeit, schattige Wälder, aber kein Regen und keine Wolken, keine Winde natürlich, aber auch keine drückende Hitze, Hochgebirge, aber gemäßigter Luftdruck und vor allem: keine Gewitter. Dass es in seinem ersten Silser Sommer 1881 so viele Gewitter gab, veranlasste Nietzsche, seine Mutter zu fragen, ob irgendein Nietzsche vor ihm schon einmal besondere Sensibilität hinsichtlich elektrischer Spannung in der Luft gezeigt habe, und er bereute es, nicht zur Pariser Elektrizitätsausstellung gereist zu sein, um sich hierüber kundig zu machen. Immer wieder suchte er magische Orte mit Reminiszenzen, die einen segensreichen Aufenthalt ankündigten und ihn vielleicht von den ganz schlimmen Anfällen verschonten. Auf Venedig etwa folgte im Juli 1880 Marienbad – das hatte naheliegenderweise etwas mit Goethe zu tun; außerdem aber stieß der Wanderer hier auf ein Haus im Wald namens «Ermitage», offensichtlich ein gutes Omen. Dann aber kam es für den Philosophen ganz anders. «Hier in der allein im Walde gelegen[en] Eremitage, deren Eremit ich bin» , schrieb der Denker an Heinrich Köselitz alias Peter Gast, «ist seit gestern große Noth: ich weiß eigentlich nicht, was geschehen ist, aber der Schatten eines Verbrechens liegt auf dem Haus. Man hat etwas vergraben, Andere haben es entdeckt, man hörte schrecklich jammern, viele Gendarmen waren da, Hausdurchsuchung fand statt, und nachts hörte ich im Zimmer neben mir jemand schwer gequält seufzen, so daß mich der Schlaf floh. Auch schien in der tiefsten Nacht wieder im Walde gegraben zu werden, aber es fand eine Überraschung statt, und es gab wieder Thränen und Geschrei.» Er sei nicht neugierig genug, fügte er hinzu, um sich nach Einzelheiten zu erkundigen, die alle Welt wisse, nur er nicht. Ein Beamter habe lediglich von einer «Banknotengeschichte» gesprochen. Der Schwester konnte er immerhin tags darauf mitteilen: «Jetzt haben wir im Haus Trübsal, der Besitzer ist plötzlich ins Gefängniß geschafft worden, Gendarmen kamen und gruben eine Druckmaschine für falsche Banknoten aus.» Jedenfalls – so an Köselitz: «Genug, die Waldeinsamkeit ist unheimlich.» Goethe hätte aus diesem Erlebnis gewiss einen handfesten Krimi gemacht und es bestimmt nicht versäumt, bei den Beteiligten genauer nachzufragen, was denn geschehen sei, um sie hinterher pointiert zu charakterisieren. Aber der Schriftsteller Nietzsche, der dazu nicht Prosaist genug war, fühlte sich durch das bizarre Erlebnis nur in seiner ohnehin angegriffenen Ruhe gestört und sehr irritiert. Dies also war seine «Emeritage». Da er in Genua immer in einer offenbar besonders günstigen Dachwohnung logierte, sprach er Franz Overbeck gegenüber (November 1880 nach zwei Monaten Stresa) von einer «idealischen Dachstuben-Einsamkeit» , auf die sein ganzes Dichten und Trachten ausgerichtet sei. Von der Genueser Dachstube aus, wo er es bis in den März des Folgejahres aushielt, bat er Köselitz, seinen alten Freund Gersdorff zu fragen, ob er nicht Lust habe, mit ihm ein bis zwei Jahre nach Tunis zu gehen. «Klima ausgezeichnet, nicht zu heiß – Überfahrt von Livorno über Cagliari sehr kurz, das Leben dort billig. Ich will unter Muselmännern eine gute Zeit leben, und zwar dort, wo ihr Glaube jetzt am strengsten ist: so wird sich wohl mein Urtheil und mein Auge für alles Europäische schärfen.» Der in Tunis ausbrechende Krieg verhinderte dieses Reisevorhaben. Mit dem Morgenland verband Nietzsche auch ein paar märchenhafte Vorstellungen vom Serail, von den «Töchtern der Wüste» , die in seinen «Zarathustra» Einzug hielten, und ähnlich üppigem Wohlleben, die er sich in Europa nicht so zu träumen wagte, wie er’s wohl wollte. Seine sämtlichen «orgiastischen» Träume sind mythisch besetzt oder bewegen sich im Prostituiertenmilieu. Merkwürdig auch, wie er manchmal an die Orte gelangte, von denen er sich aufgrund zufällig erhaltener Hinweise so viel versprach. «Denken Sie ,» schrieb er im Juni 1882 an Köselitz, «daß ich von Messina nach dem Berliner Grunewald gereist bin, der mir als Aufenthalt für den Sommer von einem schweizerischen Forstmann empfohlen wurde. Ich fand freilich hier nicht, was ich suchte – und bin jetzt wieder in Naumburg.» Naumburg war Alpha und Omega, ob er es sich nun eingestand oder nicht. Immer wieder fuhr er hier ein, schiffbrüchig

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