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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
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verblasstes und nicht mehr berechtigtes Leben, das seine Zeit als erkenntnisdienliches Hilfsmittel einmal gehabt hat, aber längst überwunden ist. «An das Ideal» richtet Nietzsche 1882 einmal das Wort an seinen Schatten, und es heißt: «Wen liebt ich so wie dich, geliebter Schatten!/Ich zog dich an mich, in mich – und seitdem/Ward ich beinahe zum Schatten, du zum Leibe.» Doch Nietzsches Wendung und der Umgang mit seinem Schatten ist antiplatonisch. Während in Platons Höhlengleichnis die Schatten an der Höhlenwand, die die unkundigen Menschen an sich vorbeiziehen sehen und für das Wahre halten, nur die mängelbehafteten schlechten Kopien der lichten Welt sind mit ihren wirklichen Dingen, gibt es bei Nietzsche kein Originales, worauf die Schatten verweisen und an dem man seine Wahrnehmung ausrichten soll. Vielleicht sind sie Übergangsstadien, vielleicht verkörpern sie auch das Beste in uns, unser Streben, Trachten und Drängen, die Ideen, die wir erhöhen zum «Ideal». Doch sie sind Täuschungen. Der «freie Geist» nutzt die Schatten zu seiner eigenen Loslösung. Eingefleischte Ideen über Jahrhunderte werfen lange und zähe Schatten, so zum Beispiel das Christentum. Aber da sie uns folgen, unsere Schatten, müssen wir uns auch mit ihnen bereden. In seiner Entlarvungspsychologie, die sich in «Menschliches, Allzumenschliches» im Rahmen der verschiedenen Lebens- und Gesellschaftsbereiche entfaltet, stellt Nietzsche fest, dass alle Wertvorstellungen und Ideale ausnahmslos aus den sogenannten niederen Seelenanteilen, Begierden und Trieben hervorgehen und die vermeintlich überzeitlichen Werte kreieren. Wo also haben die Schatten ihre geringste verderbliche Macht? Dort, wo die Sonne am höchsten steht und kurze Schatten wirft, die nicht den Blick trüben. Was jetzt schon auftaucht in Nietzsches Erlebnis der Graubündener und Oberengadiner Gebirgslandschaft, ist das Bild vom «großen Mittag» , an dem Zarathustra seine Lehre von der ewigen Wiederkehr festmachen wird. Der Wanderer in der Mitte des Lebens erlebt ein «nunc stans», stehende Ewigkeit. «Am Mittag. – Wem ein tätiger und stürmereicher Morgen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesucht, die Monde und Jahre lang dauern kann. Es wird still um ihn, die Stimmen klingen fern und ferner; die Sonne scheint steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den großen Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte – so dünkt es ihm. Er will nichts, er sorgt sich um nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt; es ist ein Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück.» Das «schwere, schwere Glück» , erkauft mit «schwere[r], schwere[r] Last» , die auf dem Denker liegt. Der Wanderer, die säkularisierte Figur des christlichen Pilgerers, trägt sein Kreuz, um die Wahrheit von größtem Schwergewicht zu den Menschen zu bringen. Wie sehr Nietzsche bis zum Schluss christlichem Denken, christlicher Symbolik und christlichen Motiven verwachsen bleibt, wird auch dem unvoreingenommenen Betrachter eigentlich immer ganz klar. In der romantischen Tradition steht der Wanderer für Fernweh und Normausbruch, ungebundenes Leben. Bei Nietzsche ist er zugleich charakteristisch für das Selbstverständnis des Philosophen, so wie er ihn bestimmt. Den Abschluss von «Menschliches, Allzumenschliches I» bildet «Der Wanderer». «Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer, – wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele. Denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht all zufest an alles einzelne anhängen; es muß in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Tor der Stadt, welche ihm Rast bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, daß noch dazu, wie im Orient, die Wüste bis an das Tor reicht, daß die Raubtiere bald ferner, bald näher her heulen, daß ein starker Wind sich erhebt, daß Räuber ihm seine

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