Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
spürte seine Gefährdungen, seinen Radikalismus, und das, im Zusammenhang mit seiner gehemmten Natur, machte ihr Angst. Nie hatte sie mit ihm die vertrauensvolle Unschuld und freundschaftliche Offenheit, die sie mit Rée lebte, mit dem sie per «Du» war und den sie wirklich als einen älteren Bruder betrachtete. Nietzsche, der in solchen Dingen ja nicht gerade an Erfahrungen reich war, dem aber über Nacht seine Lebensentwürfe umgestülpt wurden, übersah die Sache sehr schnell und analysierte sie so: Das Ganze konnte nur funktionieren – jedenfalls wenn man den verwundbaren Ruf der jungen Dame im Auge behielt –, wenn einer der beiden Freunde Lou heiratete. Nietzsche wusste nicht recht, wie es um Rée stand. Bei seiner Sensibilität hätte er eigentlich merken müssen, dass der Freund ebenfalls, so wie er, in das Mädchen verliebt war – beide allerdings vollkommen aussichtslos. Während Rée das offenbar akzeptierte und sich in die kameradschaftliche Rolle fand, die Lou ihm gab (in stiller Hoffnung vielleicht), setzte Nietzsche zum Angriff an. Sehr spontan, beinahe überfallartig konnte er vorgehen, wie es ja schon der Fall «Mathilde Trampedach» einst bewiesen hatte. Der sorgfältig gekleidete Mann mit dem starren Blick, pomadiertem Haar und dem gewaltigen, nach vorne gekämmten Schnurrbart stellte sich, im Bilde gesprochen, hin und sprach: «Wollen Sie mich heiraten – ja oder nein?» Das erstemal, bei der Trampedach, hatte er einen Brief geschrieben, war abgereist und hatte um schriftliche Antwort gebeten. Das zweitemal schickte er den Freund und Rivalen als Brautwerber los. Das war etwa ebenso ungeschickt wie die erste versandete Werbung, und man kann sich auch vorstellen, dass Rée als Brautwerber für Nietzsche nicht sehr engagiert war. Lou lehnte ab und gab als Begründung an, sie würde im Fall einer Heirat ihre Pension verlieren. Da sie ja wusste, dass Nietzsche kein Geld hatte (und nicht einmal einen schönen Familiensitz wie Paul Rée), war ihr wahrscheinlich diese Ausrede lieb. Sie bemerkte aber auch, dass sie ihren noch frischen Freiheitsdrang keineswegs einbüßen wolle. Ohne beide Herren damit zu brüskieren, beabsichtigte sie mit diesem Wort möglicherweise eine grundsätzliche Aussage, die Klärungscharakter für die etwas verfahrene Situation hätte, an der sie auf ihre Weise doch festhalten wollte. Fünf Jahre nach diesen Verwicklungen mit den zwei Geistesfreunden, die etwas anderes sein wollten, hat Lou Salomé den Orientalisten Carl Friedrich Andreas geheiratet, ihm aber keinerlei Chance in Aussicht gestellt, jemals als Mann und Frau mit ihm leben zu wollen. Möglicherweise war diese seltsame Ehe eine Kapitulation vor den sittlichen Einschränkungen ihrer Zeit. Auf diese Weise ließ man sie also endlich in Ruhe, und sie konnte die für sie so erstrebenswerte Kameradschaft mit einem Mann leben ohne zudringliche Blicke, Fragen und Ansprüche von unberufener Seite. Leider verlor sie damit dann Freund Rée – man konnte die gezügelten Kameraden nicht im Mehrfachpack hegen. Der Dichter Rainer Maria Rilke, vierzehn Jahre jünger als sie, mit dem sie weitere zwölf Jahre später ihre erste volle Liebeserfahrung machte, hat diese Frau, die später als Psychoanalytikerin noch Erstaunliches über den weiblichen Eros schrieb und in ihren Romanen auch vor Sadomaso-Szenen nicht Halt machte, möglicherweise entjungfert. Vielleicht war es aber auch ein russischer «Landsmann», den sie in Paris kennenlernte, als sie mit ihrem schwarzen Pudel Toutou durch die literarischen Cafés zog, mit wehenden Stolen und immer etwas bohèmehaft und ungekämmt, um im Paris des Finde-siècle illustre Menschen zu treffen. Ein Russe und ein spontaner Akt – so gesehen würde es jedenfalls passen. In ihrem «Lebensrückblick» beschreibt sie den jungen Arzt namens Ssawely als Mann von baumstarker Gesundheit und blitzenden Zähnen, mit denen er Nägel aus Wänden zu reißen vermochte. Sie hat mit ihm eine Weile in einer Almhütte oberhalb Zürichs gewohnt, Milch, Käse, Brot und Beeren gegessen und Barfuß-Spaziergänge über sanfte Gebirgsmatten gemacht, bei denen sie dann aber wegen Verfangens in einer Brombeerhecke einmal auch blutige Füße bekam, was die Autorin ziemlich erotisch in Szene setzt.
Nietzsche hatte zwar noch gar nichts von Rom gesehen, als die anderen schon wieder zur Weiterfahrt aufbrachen, doch er hatte sich schon dem Zauber Lous und ihrer sanften Anführung untergeordnet. So ging’s – getrennt
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