Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
großen Titelüberschrift einer einmaligen Werk- und Geistesvererbung, die ihm mit all diesen Verflechtungen nach dem euphorischen Fund wieder verlustig gehen sollte. Er hat es selbstkritisch so ausgedrückt, dass er durch seine hochsensible Veranlagung, seinen einsamen Denkweg und die Leiden der letzten Jahre keine Schutzschicht mehr hatte, die ihn vor Verletzungen, vorschnellen Offenbarungen und einem offenkundigen Falschspiel anderer hätte bewahren, mit deren Hilfe er wenigstens etwas glimpflicher hätte davonkommen können. Eine Weile kämpfte er auch noch um sein Ideal und versuchte sich Lou als Erscheinung und Faktor in seinem Leben zu halten, doch die Verunglimpfungen hatten schon ihre Kreise gezogen; die Atmosphäre um ihn und Lou schien vergiftet, und das dauerhaft. «Eines Tages» , schrieb er gleichnishaft und prophetisch an «Peter Gast» alias Köselitz – und da lag Tautenburg und Lou sogar noch vor ihm – «flog ein Vogel an mir vorüber; und ich, abergläubisch wie alle einsamen Menschen, die an einer Wende ihrer Straße stehen, glaubte einen Adler gesehn zu haben. Nun bemüht sich alle Welt darum, mir zu beweisen, daß ich mich irre, – und es giebt einen artigen europäischen Klatsch darüber. Wer ist nun der Glücklichere – ich, ‹der Getäuschte›, wie man sagt, der einen ganzen Sommer ob dieses Vogelzeichens in einer höheren Welt der Hoffnung lebte – oder jene, welche ‹nicht zu täuschen› sind? – Und so weiter. Amen.» Ob Heinrich Köselitz, der in Venedig saß, mit solchen Zeilen seines fernen, verzweifelten Freundes viel anfangen konnte, möge dahingestellt sein. «Heroismus –» , schrieb Nietzsche am 8./24. August an seine im Nachbarhaus anwesende Freundin in Tautenburg, und gewiss zum bleibenden Angedenken, «das ist die Gesinnung eines Menschen, der ein Ziel erstrebt, gegen welches gerechnet er gar nicht mehr in Betracht kommt. Heroismus ist der gute Wille zum absoluten Selbst-Untergang» . Er hat sich fürchterlich gequält in den kommenden Wochen und Monaten, da er unzählige Briefentwürfe an Lou und Rée und auch an Unbekannt formulierte, voller Bitterkeiten, Anklagen und Selbstquälereien, bevor er im Februar in Rapallo in nur zehn Tagen, gehoben wie nie und darauf abstürzend wie noch nie, den ersten Teil des «Zarathustra» verfasste. Es war wie ein «seliges Diktat» , Vorbild für Thomas Manns Adrian Leverkühn im «Doktor Faustus», der sich bewusst mit der Syphilis infiziert, um rauschhafte und kühne Werke schaffen zu können, die alle bisherigen Formgrenzen sprengen.
Lou Salomé, Paul Rée und Friedrich Nietzsche, 1882.
Der entzückende Traum von der Begleiterin des einsamen Wanderers war leider ausgeträumt.
Sils Maria/Nizza/Turin, 1884–1888
«Jenseits von Gut und Böse»
O ewiges Überall, o ewiges Nirgendwo, o ewiges – Umsonst!» , klagt der Schatten des Wanderers Zarathustra, als er gesteht, dass das Suchen nach einem Heim seine Heimsuchung sei, woraufhin Zarathustra ihm antwortet: «Deine Gefahr ist keine kleine, du freier Geist und Wanderer! Du hast einen schlimmen Tag gehabt: sieh zu, daß dir nicht noch ein schlimmer Abend kommt! Solchen Unsteten, wie dich, dünkt zuletzt auch ein Gefängnis selig. Sahst du je, wie eingefangne Verbrecher schlafen? Sie schlafen ruhig, sie genießen ihre neue Sicherheit. Hüte dich, daß dich nicht am Ende noch ein enger Glaube einfängt, ein harter, strenger Wahn! Dich nämlich verführt und versucht nunmehr jegliches, das eng und fest ist.» Er wolle nun also allein weiterlaufen, so Zarathustra, ohne den Schatten, «daß es wieder hell um mich werde.» Und abends, da werde bei ihm getanzt.
Ihre geistige Abkehr von Nietzsche begründete Lou damit, dass er ein «Gottsucher» sei – und sie habe das hinter sich. Dass diese illustre Figur der Jahrhundertwende, nach der Frank Wedekind möglicherweise die vamphaft-kindliche Lulu seiner Erzählung «Erdgeist» erschuf, da zu ähnlichen Ergebnissen kommt wie der eine oder andere Vertreter der katholischen oder protestantischen Orthodoxie (und nicht nur die), ist bemerkenswert. Bei der Gottlosigkeit bleibt es nicht, wird es nicht bleiben, auch wenn man Gott oder die Götter getötet hat, was ja nie endgültig ist, da der Tod, so ein Bonmot im «Zarathustra», bei Göttern immer nur ein Vorurteil ist. «In deiner Nähe, ob du schon der Gottloseste sein willst, wittere ich einen heimlichen Weih- und Wohlgeruch von langen Segnungen: mir wird wohl und wehe dabei»
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