Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
zwar, denn Nietzsche hatte zunächst wieder einmal starke Kopfschmerzen und musste noch ausharren – zu den oberitalienischen Seen. Lou setzt in ihrem Lebensrückblick Nietzsches Anfälle in Anführungsstriche. Sie glaubte offensichtlich nicht an eine Organbefindlichkeit seiner Leidenszustände. «Für Nietzsche» , schreibt sie, «wurde sein Zuständliches, seine Tiefe der Not, zum Schmelzofen, worin sich der Erkenntniswille erst zur Form ausglühte; dies Formwerden in solcher Glut ist das ‹Gesamtwerk Nietzsche›» . Am Ortasee, wo sich die Gruppe im Mai wieder traf, ging es ihm prächtig, und da er infolge seiner Hochgebirgsaufenthalte schon ein strammer Bergsteiger war, bot er Lou an, sie auf den Monte Sacro zu führen. Rée und Lous Mutter blieben im Tal zurück und waren der Meinung, dass die beiden sich geradezu unanständig lange da oben allein aufhielten. Was da passiert ist, bleibt wohl Geheimnis. Vielleicht war Nietzsche gehoben und Lou ein bisschen kokett. Sie haben endlos gesprochen in der idyllischen Überschau ihrer Gebirgswanderschaft, und es war Anfang Mai. Lou kommentiert diese intensiven Gespräche: «Der religiöse Grundzug unserer Natur ist unser Gemeinsames und gerade darum so stark in uns hervorgebrochen, weil wir Freigeister im extremsten Sinne sind.» Im Alter darüber befragt, murmelte Lou, sie wisse nicht mehr, ob sie Nietzsche auf dem Monte Sacro geküsst habe. Er jedenfalls sollte in Tautenburg flüstern – und das war wenige Monate nach dieser Gebirgswanderschaft, als man erneut, im Thüringer Wald diesmal, einen schmalen Steig aufwärts ging –: «Monte Sacro, – den entzückendsten Traum meines Lebens danke ich Ihnen.» Er sagte dann auch: «Damals in Orta hatte ich bei mir in Aussicht genommen, Sie Schritt für Schritt bis zur letzten Consequenz meiner Philosophie zu führen – Sie als den ersten Menschen, den ich dazu für tauglich hielt.» Das war für Nietzsche eine enorme Erklärung, und sie wurde durch nichts und niemanden mehr übertroffen. Im Löwengarten von Luzern machte er Lou einen zweiten Heiratsantrag, diesmal von Angesicht zu Angesicht, ohne den Mittelsmann Rée. Wieder lehnte sie ab, doch die Tatsache, dass sich für Nietzsche nichts änderte nach dieser Ablehnung, dass er nach wie vor euphorisiert blieb und festhielt an der Idee dieser Erbschaft und Arbeitsgemeinschaft, zeigt, dass es ihm nicht in erster Linie ums Heiraten ging – wiewohl er auch hoffen mochte, das könne noch kommen –, sondern dass er beseligt war, trunken vor Glück, hier einen Menschen gefunden zu haben, eine reizende junge Frau außerdem, die seine Gedankenwelt mittragen konnte. Eine intimere Form von Zusammensein war für Nietzsche vermutlich kaum vorstellbar. «Auch ich habe jetzt Morgenröthen um mich» , schrieb er Lou am 7. Juni aus Naumburg, «und keine gedruckten! Was ich nie mehr glaubte, einen Freund meines letzten Glücks und Leidens zu finden, das erscheint mir jetzt als möglich – als die goldene Möglichkeit am Horizonte alles meines zukünftigen Lebens. Ich werde bewegt, so oft ich nur an die tapfere und ahnungsreiche Seele meiner lieben Lou denke.» Zu dem Zeitpunkt war es allerdings dann schon relativ offenkundig, dass Nietzsche mit Rée um Lou rivalisierte, Komplikationen einbezogen, deren Form und Ausmaße noch unbekannt waren. In Luzern war auch (auf Nietzsches Betreiben hin!) das delikate Atelier-photo vor einer Bergkulisse entstanden, das Lou in einem Leiterwagen kniend mit einer Peitsche zeigt, während die beiden Herren Nietzsche und Rée vor ihren Karren gespannt sind. Man kann das ganz einfach als einen Spaß ansehen, in aufgeräumter Stunde entstanden, doch eingedenk dieser Konstellation besitzt es sicher Symbolkraft genug, und der Gedanke bleibt ganz einfach nicht aus, dass Nietzsche diese oder eine ähnliche Szene im Blick hat, wenn er später im «Zarathustra» ruft, man solle die Peitsche mitnehmen, wenn man zum Weibe geht. Delikat, nicht gutbürgerlich, war auf jeden Fall Nietzsches Frauengeschmack, und entsprechend waren vermutlich auch seine erotischen Träume, die wir aufgrund entsprechender vager Sequenzen, eingestreut in Gedichte und später in den Briefen und Zetteln des Wahnsinns aufblitzend, nur mutmaßen können. Lou suchte dann Rée auf seinem Familiensitz in Stibbe unweit Berlins auf. Nietzsche hatte den Gedanken, auch nach Berlin zu fahren und ein Treffen mit Lou im Grunewald möglich zu machen, aber das klappte nicht. «Halbtodt» , schrieb
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