Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
die jetzt noch folgten und zu denen er aufbrechen musste, seelisch gewachsen war, wusste er nicht.
Warum Zarathustra? Warum wählte sich Nietzsche, der Radikal-Diagnostiker, Moralkritiker, Anti-Metaphysiker und Gotteszertrümmerer, den iranischen Religionsstifter, der als Erster den Dualismus von Gut und Böse als Weltprinzip feststellte, zum Namensgeber seines Werks, das er als sein Hauptwerk und sein Vermächtnis empfand? Fast wirkt die Wahl dieses Namens und dieser Figur, deren Lehre Nietzsche gleichsam in ihr Gegenteil umkehrte, wie Persiflage – eine, die als bewusste Umkehrung, als Überwindung gedacht ist. Die Überwindung eines so folgenreichen Geschehens mit sämtlichen Abzweigungen diesseitsverneinender Strömungen, in denen das Christentum schließlich nur eine Erscheinung von vielen ist, wird vielleicht nachhaltiger, mag er gedacht haben, wenn man den Initiator benennt, der somit mehr war als eine Jahrhundertfigur. Schon über die Lebensdaten des «Zoroaster» herrscht große Uneinigkeit; sie liegen mehrere Jahrhunderte auseinander. Auch über sein äußeres Leben ist wenig bekannt. Er entstammte wahrscheinlich dem unvermögenden Adel, war selbst kein Priester und legte sich sogar im Zuge seiner reformatorischen Bestrebungen um die religiösen Lehren seiner Zeit mit der Priesterschaft und mit den weltlichen Machthabern an. Ein Wahrheitssuchender war er und somit einer von Nietzsches zeitlosen Helden. Das Weltgeschehen, so Zarathustra, ist ein ewiger kosmischer Kampf zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge. Entscheidend an seiner Lehre ist aber die Aufteilung der Welt in eine geistige und eine stoffliche Sphäre, worauf alle Gegensätze zurückgehen sollen. In der Menschenwelt stehen sich Fromme, Gläubige, Sehende und die Götzendiener, die «Blinden und Tauben», klar getrennt gegenüber. Während der Fromme, der auf den Pfaden der Weisheit wandelt, Gesundheit, Reichtum und langes Leben erhält, Macht und Nachkommenschaft, und dies alles durch seine rechtschaffene Weise verdient, müssen die «Blinden und Tauben» gemieden, gemaßregelt, von ihrem Besitz vertrieben und letztendlich ausgemerzt werden. Nach dem Tod gelangt die Seele des Menschen über die Brücke «Tschinvat», wo das Gericht abgehalten wird über Gute und Böse. Entweder gelangt die gerichtete Seele nun in die Gefilde des Paradieses «Carodemâna» oder aber in die Hölle, an den «schlechtesten Ort». Irgendwann, so die Lehre, wenn dereinst diese Welt untergeht, wird ein Jüngstes Gericht statthaben, das den bösen Geist endlich vertreibt, um eine neue, ewige Welt entstehen zu lassen. Warum also Zarathustra als Namensgeber für Nietzsches geheimnisvollstes, dichterischstes, symbolhaltigstes und zugleich dunkelstes, mit Sicherheit aber sein gültigstes und identifikatorischstes Werk? Nietzsche sagt es in «Ecce homo», und er fragt sich ein wenig erstaunt (und latent auch beleidigt), warum man ihn eigentlich gar nicht gefragt habe, was im Munde des ersten Immoralisten der Name «Zarathustra» bedeute, da es ja schließlich das genaue Gegenteil dessen sei, was die Einzigartigkeit jenes Persers in der Geschichte ausmache. «Zarathustra hat zuerst im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehen – die Übersetzung der Moral ins Metaphysische, als Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk. Aber diese Frage wäre im Grunde bereits die Antwort. Zarathustra schuf diesen verhängnisvollsten Irrtum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn erkennt. Nicht nur, dass er hier länger und mehr Erfahrung hat als sonst ein Denker – die ganze Geschichte ist ja die Experimental-Widerlegung vom Satz der sogenannten ‹sittlichen Weltordnung› –: das Wichtigere ist, Zarathustra ist wahrhaftiger als sonst ein Denker. Seine Lehre, und sie allein, hat die Wahrhaftigkeit als oberste Tugend – das heißt den Gegensatz zur Feigheit des ‹Idealisten›, der vor der Realität die Flucht ergreift; Zarathustra hat mehr Tapferkeit im Leibe als alle Denker zusammengenommen. Wahrheit reden und gut mit Pfeilen schießen, das ist die persische Tugend. – Versteht man mich?… Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz – inmich – das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra.»
Nietzsches «Zarathustra», laut Untertitel «Ein Buch für Alle und Keinen», steht schon in seiner Form sperrig und einsam im Raum
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