Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
– wie sein Schöpfer, der seinen letzten Höhengang abbildet. Er ist Dichtung, philosophisches Epos und religiöser Traktat, antikes Lehrgedicht, wissenschaftliche Prosa, eine Art Bibel der Zukunft, die Nietzsche als «fünftes Evangelium» bezeichnete, voll von Gleichnissen, schwer zu deutenden Bildern, surrealen Situationen und Szenerien, typenhaften Figuren und dunklen Metaphern, eingebunden in mythische Landschaften und durchsetzt mit biblischen Sprachwendungen sowie dem entsprechenden Pathos, das stellenweise orakelhaft anmutet. Die formelhafte Anrede: «O Zarathustra!» und vieles andere mehr erinnert an Platons Sokrates. Wie Jesus von Nazareth sammelt der Prediger, der ja doch kein Prediger ist, seine Jünger um sich und zelebriert mit ihnen (parodierend) das Abendmahl, wie der abendländisch-germanische Faust ist er seiner Weisheit überdrüssig und begibt sich, zwar nicht zwecks Elementarerfahrung, sondern um seine Weisheit zu teilen, wieder ins «Leben» und zu den Menschen zurück, wie Don Juan findet er kein Genügen in ihnen, wie Buddha konfrontiert er sich nach einem Leben in hoher Umgebung (hier ist es die Einsamkeit des Erkennenden) mit menschlichem Leiden und mit der Hinfälligkeit des menschlichen Körpers, wie Heraklit schaut er am liebsten spielenden Kindern zu und sieht in ihrem Zerstörungs- und Schöpfungswerk ein Abbild der Welt, wie Moses zerbricht er die Gesetzestafeln, um neue Werte zu schaffen, im Sinne Dionysos’, des tanzenden Gottes, predigt er die Vernunft des Leibes und das Gebären tanzender Sterne. Zarathustra ist der Prophet des Übermenschen und zugleich «Teufels Fratze und Hohnlachen» , Gott und Teufel in einem, Künstler, ein Schaffender, «nur Narr, nur Dichter» , Hanswurst und Schelm, freier Geist, der Umwerter aller Werte.
Mit 30 Jahren verlässt Zarathustra seine Heimat wie auch den See seiner Heimat und geht ins Gebirge, um seines Geistes und seiner Einsamkeit zu genießen. Zehn Jahre später will er seine einsam erlangte Weisheit den Menschen mitteilen, und so beginnt, wie es tiefsinnig heißt, «Zarathustras Untergang» . Ein alter Heiliger begegnet dem Wanderer auf seinem Abwärtsweg, der den Erleuchteten davor warnt, sich wieder unter Menschen, die «Schlafenden», zu begeben. Aber seltsam, denkt Zarathustra, als der heilige Greis ihn verlassen hat, um, wie er sagt, weiter in seinem Wald Gott zu loben – der alte Heilige in seinem Wald hat offenbar noch nichts davon gehört, dass Gott tot ist. In einer Stadt findet Zarathustra viel Volk auf dem Marktplatz versammelt, das sich auf ein Spektakel mit einem Seiltänzer freut. Da der Seiltänzer jedoch auf sich warten lässt, ändert Zarathustra kurzerhand das Programm. Er präsentiert dem Volk, seinem Publikum, seine Lehre in Kurzform: «Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden?» Man solle der Erde treu bleiben und denen nicht glauben, die einem von überirdischen Hoffnungen redeten. «Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren die Erde müde ist.» Mit der Seele sei’s nichts, mit dem Glück sei es nichts, mit der Vernunft sei es nichts, und mit der Tugend sei es schon gar nichts. Mit Gut und Böse habe es insgesamt gar nichts auf sich, und wo das Mitleiden hinführe, sehe man schließlich an dem, den man ans Kreuz nagelte. Das Publikum, das ja ein Seiltänzerkunststück erwartete, als es zum Markte ging, ist einigermaßen befremdet über die Lehren des Unbekannten an diesem Ort. Es versteht sie auch nicht, und Zarathustra wird ausgelacht. Als nun der Seiltänzer, der sich prompt angesprochen fühlte, als vom «Übermenschen» die Rede war, endlich erscheint und mit seinen Kunststücken beginnen will, gibt Zarathustra noch ein abschließendes Gleichnis zum Besten: «Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über dem Abgrunde.» Die erste Begegnung des großen Weisen aus dem Gebirge mit dem Volk, der erste Tag seines «Untergangs» , endet tragisch, und er wird angefüllt mit gespenstischen Bildern. Ein irrer Possenreißer stößt den Seiltänzer, der die Balance verliert, von seinem luftigen Aufenthalt, und er liegt daraufhin – noch nicht ganz tot, aber zerschmettert – am Boden. Vor seinem Hinscheiden kann Zarathustra ihn noch davon überzeugen, dass es keinen Teufel gibt, der ihm ein Bein gestellt hat, und keine Hölle, in die er jetzt einfahre, und da der
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