Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
überschätzte?
«Hier sitze ich und warte, alte zerbrochne Tafeln um mich und auch neue halb beschriebene Tafeln. Wann kommt meine Stunde?» , fragt Zarathustra, und er schämt sich dafür, dass er noch Dichter sein muss und zu den Menschen in Gleichnissen reden, da sie ihn sonst nicht verstehen und da die Welt um ihn herum noch nicht so ist, wie sie sein könnte. Er träumt sich «hinaus in ferne Zukünfte, die kein Traum noch sah, in heißere Süden, als je sich Bildner träumten: dorthin, wo Götter tanzend sich aller Kleider schämten.» Freie Sinnlichkeit und ein Geist ohne Grenzen, das ist Zarathustras Vision. Dieser Geist kennt keine Fluchtpunkte. Er widersteht allen Versuchungen, in einem Glauben und einer Weltsicht, einem Glücksversprechen und einer Sinngebung, einer letzten Überzeugung und einer Sicht auf die Dinge endgültige Heimat und Ruhe zu finden. Er steht für das ewige Werden und für den Wechsel der Perspektiven, da nur diese Einstellung einer heterogenen Welt ohne Sinn, Ziel und Endzwecke wirklich gewachsen sein kann. Aber wird es diesen freien Geist jemals geben? Und gar den «Übermenschen»? Wenn Zarathustra von den «Abtrünnigen» redet, die zu ihrer eigenen Schande gar den schlimmsten rückschrittigen Frevel begehen und wieder «zum Kreuze kriechen» – womit selbstverständlich Richard Wagner gemeint ist –, dann ist das nur eine von vielen Arten des Rückfalls. Seine «höheren Menschen» , die schließlich schon besondere Voraussetzungen zur Freigeistigkeit mitbringen müssen, werden auch immer wieder von ihrem Weisen gerügt, weil sie den hohen Ansprüchen Zarathustras nicht gerecht werden können. Wer also wieder gottesfürchtig und sentimental, mitleidig, verehrend und fromm wird, wem es an Mut gebricht, wer sich anlehnt an überholte Tugendlehren und Werte, wer den Dichtern verfällt und sich im Mondschein von ihnen einsäuseln lässt (oder von egomanen Musikkompositeuren, folgt man dem Verfasser des Werkes auf seiner Spur), der ist nicht würdig, den höchsten Weg einzuschlagen. Mitleid mit dem höheren Menschen, der diesen Schwächen und alten Versuchungen immer erneut widerstehen muss, empfindet Zarathustra schließlich als seine eigene letzte Abhängigkeit, seine «Sünde», die es noch zu überwinden gilt.
Die vier Teile des Werks bezeichnen die vier verschiedenen Stufen, auf denen sich Zarathustra den Menschen mitteilt und versucht, ihnen seine Lehre begreiflich zu machen. Das Übermittlungsproblem ist ein Thema für sich. Sprache als Kommunikationsmittel erscheint hochgradig problematisch, unzureichend und missverständlich, um einen Erfahrungshorizont wie den des Propheten der Freigeistigkeit kommunizierbar zu machen, ohne Entstellung, Verflachung, Verharmlosung, Dämonisierung oder auch Rückführung ins Gewohnte – zumal ja der Umwerter aller Werte, wie ihm natürlich völlig bewusst ist, so wie die meisten epochalen Figuren mit der Macht der Zertrümmerung alles Bisherigen, immer zu früh kommt und nicht verstanden wird als das, was er ist. Diese Erkenntnis des Nichtverstandenwerdens zwingt Zarathustra immer wieder zum Rückzug in seine Einsamkeit. Er singt das Lob der Einsamkeit. Einsamkeit ist die Voraussetzung für Erkenntnis und zur Bewusstwerdung der eigenen Lebensbestimmung, die da heißt: «Selbstüberwindung». «Und dieß Geheimnis redete das Leben selber zu mir: ‹Siehe›, sprach es, ‹ich bin das, was sich immer selber überwinden muß.› Seine «stillste Stunde» aber – und das ist seine «zornige Herrin» – zwingt ihn schließlich zum zweitenmal zurück in die Einsamkeit seiner Berghöhle; nicht weil ihn die Menschen nicht annehmen und nicht verstehen, sondern weil er selbst noch nicht reif für seine Aufgabe ist. Mut spricht sie ihm zu, seine «furchtbare Herrin» , den Befehlsmut des Voranschreitenden. Wenn er aber doch keine Löwenstimme habe, um zu befehlen?, fragt dieser zaghaft. Die Herrin antwortet: «Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt.» In seinen Liedern besingt Zarathustra sein einsames Los, das auch bedeutet, dass seine Weisheit ungehört bleibt. «Das Nachtlied» entstand 1883 in Rom, der Stadt der Brunnen, ein Jahr nach Nietzsches erster Begegnung mit Lou in der ewigen Stadt. Es ist von unsterblicher lyrischer Schönheit.
Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen.
Nacht ist es: nun erst
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