Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Philosophie, wie sie sich schließlich durch die Nationalsozialisten ereignete? Die Vernichtungs- und Zerstörungsphantasien dieses leisen und reizbaren, kranken und überforderten Menschen, der im Leben nur in der Defensive positioniert war, klingen beängstigend; sie sind Vorboten des Krankheitsbildes, wie es sich binnen Jahresfrist abzeichnen sollte. Als Nietzsche über «große Politik» schrieb, waren es nur noch wenige Tage bis zum Zusammenbruch. Immerhin ist der Größenwahn bei einem Großen weniger anstößig, als er bei jemandem wäre, der keinerlei Anlass dazu besitzt, aber unbedenklich ist er deswegen dann doch nicht. Es sind die Leisen und Unauffälligen, die wenig Wahrgenommenen und Defensiven, so wissen wir heute, die Amok laufen und ein unterdrücktes Gefühlsleben auf diese Art ausleben. So weit ist Nietzsche, der Große, von dieser Typologie nicht entfernt, auch wenn er für sein psychisches System andere Lösungen fand, die niemanden schädigten außer ihn selbst. Die Dämonisierung und die Entfesselung eines Gezähmten ist inklusive, wenn Nietzsche sein Schicksal, das Mensch wird, auf eine Formel bringt: Vermittler zu sein für ein Schöpfertum im Guten und Bösen. «Ich bin bei weitem der furchtbarste Mensch, den es bisher gegeben hat; dies schließt nicht aus, dass ich der wohltätigste sein werde. Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner Kraft zum Vernichten gemäß ist, – in beidem gehorche ich meiner dionysischen Natur, welche das Neintun nicht vom Jasagen zu trennen weiß. Ich bin der erste Immo ralist: damit bin ich der Vernichter par excellence.»
Nietzsches Philosophie ist ganz wesentlich und vor allem anderen eine Überwindungsphilosophie. Ludwig Klages sah im «Zarathustra» eine «schwärmerisch-unheimliche Exegese des Bezugswortes ‹Über›» . Überfülle, Übergüte, Überzeit, Überart, Überreichtum, Überheld – «lauter Beispiele immer wieder verwendeter Überworte und ebensoviele Lesarten des einen ausschließlich gemeinten: der Überwindung.» Überwunden werden sollen zweitausend Jahre christlichplatonischer Weltsicht und die daraus hervorgehende defensive Moral, Leibfeindlichkeit, Mitleidsethik, Jenseits- und Götterglaube und die Hypostasierung des menschlichen Geistes, die Minderbewertung seiner Vitalkräfte, Sündenbewusstsein und Ressentiment. Was danach zur Disposition stünde, wäre die Über fülle des ungeschiedenen Lebens, aber das eigentliche Ziel ist das freie und nicht mehr entselbstete «Ich». Nach Nietzsches Vorstellung ist der starke und seiner selbst mächtige Mensch, der auf die eigenen plastischen und heilenden Kräfte vertraut, in der Lage, sich selbst solche Werte zu setzen, die immer zum Guten ausschlagen werden. Aus dem großen alttestamentarischen Sündenkatalog, wie sie düsterer kaum beschrieben werden können als in den Paulus-Briefen, wählt Nietzsche drei aus und wertet sie um: Wollust, Herrschsucht, Selbstsucht. Bei einem starken Individuum, das mit schöpferischer Kraft und Selbstannahme gesegnet ist, wird die Wollust zum großen «Gleichniss-Glück» , die Herrschsucht zu einer Form der «schenkenden Tugend» und die Selbstsucht ein Ausdruck souveräner Selbstliebe und Lebensbejahung. Dass die Liebe zu sich selbst, die übrigens aber auch im christlichen Glauben verbrieft ist ( «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» , heißt es) als Alpha und Omega, vitale Basis für den Überreichtum des Gebenden, um bei Nietzsches bevorzugter Wendung zu bleiben, die gesündeste Grundlage darstellt für Lebenskraft, die sich im Miteinander vermehrt, ist eine Erkenntnis, die nur jemandem so über die Maßen erwähnenswert ist, der das gegenteilige Milieu kennengelernt hat und von seiner Stickluft in einem empfänglichen Alter geprägt worden ist. Einem solchen Menschen ist das Christentum eine Sklavenmoral, die Defensivwerte propagiert und die Zukurzgekommenen aufwertet, Ressentiments züchtet und mit dem Glorienschein eines künftigen Ausgleichs versieht, kurz: ein Dogma entwirft für eine untergründige Rachsucht am Leben. Es bleibt problematisch, das Credo des Philosophen vom starken und mächtigen Individuum, das sich selbst seine Gesetze erteilt, und zwar in jeder Lage des Lebens und mit stets wechselndem Blick. Das klingt alles sehr vage und wirft viele Fragen auf. «Es sollen die herrschenden überschauenden Wesen geschaffen werden» , notiert Nietzsche, «die dem Spiel des Lebens zuschauen und es mits pielen, bald hier,
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