Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
betäubt. Ein durchreisender Holländer soll Nietzsche zwischen Dezember 1884 und März 1885 laut Lanzky in einer Nizzaer Pension ein Flacon weißen Pulvers aus Indien mit dem Hinweis auf äußerst sparsamen Gebrauch ausgehändigt haben – wahrscheinlich Kokain. Möglicherweise fand Overbeck im Januar 1889 nach Nietzsches Zusammenbruch, den er durch «unvorsichtige[n] Gebrauch» dieser Droge herbeigeführt habe, das Flacon bei ihm.
Nietzsche als «fugitivus errans»,
Abbildung aus Lou Salomés Nietzsche-Buch, 1894.
«Jenseits von Gut und Böse», 1886 erschienen, hat es keineswegs darauf abgesehen, und der Autor sagt das im Vorwort, die «prachtvolle Spannung des Geistes» , wie sie in Europa durch den christlich-platonischen Dualismus entstanden ist, abzuschaffen, zu nivellieren. Die Spannung soll vielmehr erhalten bleiben, um mit einem so gespannten Bogen nach «fernsten Zielen» zu schießen. Das Buch sei der neinsagende und neintuende Part nach dem ekstatischen Jasagen im «Zarathustra» und in diesem Sinne auch eine umfassende Kritik an der Modernität: Objektivitätswahn im wissenschaftlichen Positivismus, dem noch immer beschworenen «historischen Sinn», dem Fritz Nietzsche doch schon als Jüngling den Garaus gemacht hatte, der sich aber ärgerlicherweise immer noch hielt, Mitleidsethik, untergangsverliebter Kunst, Weltund Willensverneinung, Nationalpatriotismus, Staatsgläubigkeit, Frauenemanzipationsbewegung und Demokratie. Auf den ersten Blick sind das ziemlich heterogene Bestandteile, die Nietzsche allesamt dem Phänomen «Modernität» und einer insgesamt falschen Stoßrichtung zuordnet. Da er aber der Meinung ist, durch die Umwertung aller Werte könnten diese ganzen Misshelligkeiten mit einem großen Schlag aus der Welt geschafft werden, kann er sie auch unter einen großen Begriff subsumieren. Er erledige sie, meint er, mit einem Donnerschlag. Wie als vierzehnjähriger Schüler hegt er bei dieser Vorstellung nervenkitzelnde Unwetter-Phantasien, die er zwar jetzt nicht zu lyrisch-symphonischen Dichtungen macht, aber zur Wirkungsszenerie seiner geistigen Auftritte, etwa wenn er im Rückblick des «Ecce homo» seine 1887 erschienene Streitschrift «Genealogie der Moral» strukturell und stilistisch akzentuiert. Dionysos, man wisse es ja, sei auch der Gott der Finsternis, und sein Buch sei das Unheimlichste, also Finsterste, was je geschrieben wurde. «Jedes Mal ein Anfang, der irreführen soll, kühl, wissenschaftlich, ironisch selbst, absichtlich Vordergrund, absichtlich hinhaltend. Allmählich mehr Unruhe, vereinzeltes Wetterleuchten; sehr unangenehme Wahrheiten aus der Ferne her mit dumpfem Gebrumm laut werdend – bis endlich ein tempo feroce erreicht ist, wo alles mit ungeheurer Spannung vorwärts treibt. Am Schluss jedes Mal, unter vollkommen schauerlichen Detonationen, eine neue Wahrheit zwischen dicken Wolken sichtbar.» Da hat man den Eindruck, dass Nietzsche sich gedanklich in eine Wagner-Oper versetzte und im Orchestergraben zwischen den Blechbläsern saß, als er sich diese Wirkungsszenerie vorstellte, bei so viel dumpfem Gebrumm und schauerlichen Detonationen. Der Autor war jedenfalls doch ein verhinderter Musiker, so viel steht fest. Zwar kehrte Nietzsche in «Jenseits von Gut und Böse» wieder mehr oder weniger zur Essayistik zurück – von Aphorismen durchsetzt, gelegentlich auch von Gedichtzeilen –, aber das Ganze ist Spiel wie noch nie, Hochseil-Gedanken-Artistik, und damit das exemplarische Tun eines Denkers, der Erkenntnis als ständiges über-sich-selbst-Hinausgehen begreift und den Widerspruch noch im Festgehaltenen sucht, denn es gibt ja kein Letztes und keine letzte Erkenntnis. Der eben gefasste Gedanke, der sich nicht fassen lässt, überwindet sich selbst, sobald man ihn von einer anderen Seite betrachtet. Philosophieren ist ein Experiment, so wie das Leben. Alles andere ist Dogmatik, beruhend auf Vorurteilen und sprachlichen Setzungen, künstlichen Gegensätzen, die der Mensch irgendwann in die Welt gesetzt hat in Behufe einer Vereinfachung und Verzweckdienlichung dieser Welt. Hell – dunkel, gut – böse, Bewusstsein – Instinkt, Wahrheit und Lüge, Egoismus und Selbstlosigkeit: alles vordergründige Wertungen aus einer Perspektive relativ willkürlicher Einteilungen, um das Leben auf diese oder jene Weise erhalten zu können. Auch die vermeintlichen Wahrheiten der Philosophen sind im Allgemeinen nur abstrakt gemachte und hundertfach durchgesiebte
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