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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
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als Hinwegtanzen über zerbrochene Tafeln und überwundene Werte, aber doch auch den Rausch meint – ist es nicht also doch wieder der «unbekannte Gott» , der beschworen wird, der ihm Erlösung bringt, der aber doch überwunden sein sollte? Der Zauberer, einer seiner «höheren Menschen», den Zarathustra als Schauspieler und Falschmünzer demaskiert, als denjenigen, der als Bezauberer aller zutage trat, gegen sich selbst aber keine Lüge und List mehr übrig behält, um sich selbst zu belügen, dieser Zauberer schreit schließlich die Verzweiflung heraus, wenn ihm sein Gott, sein Rauschgott, seine einzige Lebenswelt, die er ertragen kann und die ihn trägt, noch genommen wird in der Redlichkeit von Zarathustras Vision:
    Nein! Komm zurück,
Mit allen deinen Martern!
Zum Letzten aller Einsamen
O komm zurück!
All meine Tränen-Bäche laufen
Zu dir den Lauf!
Und meine letzte Herzens-Flamme –
Dir glüht sie auf!
O komm zurück, Mein unbekannter! Mein Schmerz! Mein letztes – Glück!
    Und sollte nicht diese Wiederkunft Nietzsches erste und letzte Vergöttlichung sein?
    Der wandernde Philosoph, ehemals Professor, nun «fugitivus errans», epochemachender Frühpensionär ohne festen Wohnsitz, war nach wie vor auf der Suche nach einem Halb-Dauer-Aufenthalt, während er alle Werte umwertete – was ihm vor der Umnachtung leider nicht mehr gelang. 1883/84 verbrachte er seinen ersten Winter in Nizza, wo er im Jahr darauf den «Zarathustra» beendete. Empfangen war er im Hochgebirge, sein großer Sohn, ausgetragen auf den Stationen der Wanderschaft von Venedig bis Sils Maria, von Zürich ans Mittelmeer, von Mitteldeutschland bis Oberitalien. Geboren aber wurden drei seiner vier Teile in den Buchten von Rapallo, Genua, Nizza. Der Blick auf die Buchten ist ein ähnlicher wie am Stein von Surlej auf den Silvaplaner See. Nichts ist hier Zufall – so wie Nietzsche sein Leben und Werk stilisierte. Bis 1886 begleitete ihn phasenweise ein dichtender Lebensabschnittsgefährte auf seiner Wanderschaft, Paul Lanzky, der später Lyrikbände mit auffallend nietzscheanischen Titeln veröffentlichte und sich ursprünglich als Fanleser und Bewunderer an den Denker gewandt hatte. Der Einfluss Schopenhauers, Hartmanns, Mainländers und einiger anderer sowie ungünstige Lebensverhältnisse hatten den jungen Mann tief in den Pessimismus verstrickt. Die zufällige Lektüre von «Menschliches, Allzumenschliches» aber wies ihn hinaus, und so machte sich Lanzky eine Zeitlang zu Nietzsches Dauerbegleiter, was die Funktion eines Blindenführers und Vorlesers, Krankenpflegers und Sekretarius’, mitunter auch eines Drogenbeschaffers mit einschloss, denn der Wanderer stand unter Chloralhydrat, dem ersten synthetischen Schlafmittel mit erheblichem Abhängigkeitspotential und beträchtlichen Kontraindikationen, die allesamt in Nietzsches Krankheitsbild passen (Erbrechen, Kopfschmerzen, Sehstörungen), und er konsumierte noch anderes, weil er auf natürlichem Wege nicht mehr zum Schlafen kam und seine Schmerzen erträglich zu halten bestrebt war. Lanzky beschreibt eindringlich Nietzsches eingeschränkte Lebensbedingungen auf den Stationen der Reisen, seine Unbeholfenheit, seine Einsamkeit. Da er nur schlecht Französisch und kaum Italienisch sprach, brauchte er jemanden, der ihm bei der Konversation an den großen Hoteltafeln, aber auch im Alltag zu Hilfe kam. In lebhaften Städten hatte er Angst, von den Droschken überfahren zu werden, da seine Sehschwäche ihm nicht einmal einen sicheren Gang über die Straße gewährleistete. Und er ertrug die Einsamkeit nicht, so sehr er diese auch im «Zarathustra» heroisierte. Es war kein Vergnügen, so Lanzky, ihm jeden Abend Stendhal zu übersetzen, aber er tat es trotzdem, da er ja wusste, wie sehr Nietzsche unter dem Alleinsein litt. «Er war auch in meiner Gegenwart einsam, aber wenigstens nicht allein.» Ein schöner Abendhimmel, den er genießen konnte durch Palme und Aloe, das Rauschen des Mittelmeers, eine Melodie aus «Carmen», die irgendwo ertönte, «Nektartropfen auf den Wermutstrank» . Aber: «Zwischen vier kahle Wände heimgekehrt, erwartete ihn die Einsamkeit des Abends, über welche er doppelt schwer hinwegkommen konnte, weil er seiner Augen wegen nicht lesen durfte, und seine eigenen kühnen Gedanken des Tageslichts in diesem dunklen Kerker sich gegen ihn wendeten und ihn zu zermalmen drohten.» Eine Dosis Chloral, und das fiebernde Gehirn wurde wenigstens auf einige Stunden

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