Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Übergang sein kann für den Übermenschen, der diese Leere erträgt und ausschließlich in seinem Schöpfertum lebt. Der wirklich frei gewordene Geist ist der Pionier einer neuen und offenen Denkwelt, in der es keine Horizonte mehr gibt. Das Leben ist «ein Experiment des Erkennenden» («Die fröhliche Wissenschaft»). «Nichts ist wahr, alles ist erlaubt» («Zarathustra»). Jenseits von Gut und Böse bietet sich diesem vorbehaltlosen Geist eine Überfülle an Leben und Möglichkeiten der Realisierung, und mit seinem Vogel-Umblick und -Übermut besitzt er ein expandierendes Lebensgefühl sowie das «gefährliche Vorrecht, auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen, das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes» («Menschliches, Allzumenschliches»). Jenseits von Gut und Böse wird dieser Zukunftsmensch, den Zarathustra imaginiert, zum göttlichen Würfelspieler mit einer Kinderunschuld im Herzen, der Heraklits Weltenspiel unter sich sieht und es mitspielt, aus vollem Herzen, erfüllt und getragen von reiner Diesseitigkeit. Da es nichts gibt außer dem Hier und Jetzt, muss man ihn leben, den Augenblick, und zwar so – in Abwandlung von Kants kategorischem Imperativ –, «dass du wollen kannst, er verewige sich.» Nietzsche entwirft einen Imperativ der Augenblicksfülle, Ausdruck höchster Lebensbejahung, der gleichsam alles, was wir tun und entscheiden und auch, was wir nicht tun, vermeiden und auslassen, vor die Frage stellt: Kann ich wollen, dass dies für alle Ewigkeit so geschieht? – denn das wird es ja, vor dem Hintergrund ewiger Wiederkehr. Da die Spielarten der Kräfte-Konstellationen der Lehre nach bereits erschöpft sind, ist die Setzung, die ich durch meine Handlung vollziehe, logisch gesehen, gar nicht von Relevanz, denn es war schließlich alles schon da, nichts wird neu durch mein Zutun, es ist gewissermaßen ein illusorisches Schöpfertum, eine Art Nachvollzug. Aber Nietzsche erteilt dem «Gedanken und Glauben» in der Lebenserfahrung des Augenblicks die Bedeutung der Einverleibung von Ewigkeit. «Wenn du dir den Gedanken der Gedanken einverleibst» , notierte er, «so wird er dich verwandeln. Die Frage bei allem, was du thun willst: ist es so, daß ich es unzählige Male thun will?, ist das größte Schwergewicht.» Seiner illustren Gesellschaft höherer Menschen – dem Zauberer, dem hässlichsten Menschen, dem letzten Papst, dem Gewissenhaften des Geistes, den beiden Königen, dem freiwilligen Bettler, dem alten Wahrsager, dem Wanderer und Schatten – verkündet Zarathustra am Ende sein «trunkenes Mitternachts-Sterbeglück». «Eben ward meine Welt vollkommen, Mitternacht ist auch Mittag.» Er wird seinen Suchenden und potentiell Freigeistigen die große Lehre auslegen, dass die Bejahung des Lebens als Ganzem am Born der Ewigkeit liegt. Lust schließt Leid ein, besitzt aber die größere Fülle, Garant des Jasagens, durch ihren Ewigkeitsdrang. Ausgerechnet der hässlichste Mensch, der ja den wenigsten Anlass besitzt, seine Existenz zu bejahen, nimmt die Lehre als Erster an, indem er zum Tode spricht: «War das das Leben? Wohlan! Noch einmal!»
Bedauerlicherweise ist keine einzige weibliche Seele mit dem Potential zur Freigeistigkeit unter den Auserwählten. Alle weiblichen Figuren im «Zarathustra» sind Angst- oder Ekelbilder, bestenfalls doppelwertig wie im Fall der Hetären (das heißt faszinierend und abstoßend zugleich), jedenfalls sind sie durchweg fragwürdig oder negativ besetzt, ob es nun «ältliche Eheweibchen» sind oder «Töchter der Wüste» , Raubkatzen, «Mädchen-Katzen», «das brünstige Weib» oder «die furchtbare Herrin» , das alte Weiblein schließlich mit der Rachsucht an ihrem Geschlecht. Auch erscheint das von Nietzsche und Zarathustra so verherrlichte «Leben» in durchaus ambivalenter weiblicher Figuration. Als Ideal ist es Überfülle und ewiges Werden, Tanzlust und Lachlust. In der Metapher eines tückischen, flüchtigen Weibes – «ein Weib, und kein tugendhaftes» –, das erst anlockt, dann abweist und seines Gegenübers spottet, besitzt es aber auch die Gestalt einer perfiden, vielleicht auch besonders geschäftstüchtigen Hure, die sich nach Geschmack und Laune aussucht, mit wem sie sich einlässt. «Frau Welt». Eine äußerst problematische Definition der Hälfte der Menschheit in Nietzsches Zukunftsbibel, so sie denn eine ist. Wenn Zarathustra das «ganze» Leben bejaht, Lust und Weh, dann überschreitet er damit, will man
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