Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
bald dort, ohneall zu heftig hineingerissen zu werden.» Ihnen müsse die Macht zufallen, da sie keinen heftigen, ausschließlich auf ein Ziel gerichteten Gebrauch davon machen. Von Zarathustra gesegnet, dem großen Verführer zum «Selbst» und zum Selbstschöpfertum, werden jedenfalls explizit nicht die stellenweise verherrlichten vitalen Vierschröter, die Kriegsmänner mit den Sporen etc., die alles das sind, was Nietzsche nicht ist, sondern diejenigen, die eher den Bibelzitaten entsprechen: «Selig sind die Sanftmütigen», «Selig sind, die reinen Herzens sind.» Oder: «Die Ersten werden die Letzten sein» , denn diese, die Letzten, die Leidenden, sind es am Ende, durch die Erkenntnis hindurchgeht und die durch ihren Leidensweg den Impuls zur Umwertung haben. Von all den Übergängern, die ihren Untergang wollen, da es den Menschen ausmacht, eine Brücke zu sein und kein Zweck, liebt Zarathustra im Grunde die, die ihr Kreuz tragen: die nicht zu leben wissen und «untergehen», die großen Verachtenden, weil sie eigentlich die großen Verehrenden sind, die Melancholischen, denen Pfeile der Sehnsucht ins Herz geritzt sind. «Ich liebe den» , sagt Zarathustra, «dessen Seele tief ist auch in der Verwundung, und der an einem kleinen Erlebnisse zugrunde gehen kann: so geht er gerne über die Brücke.» Es sind die mit dem absoluten Willen zum Selbstuntergang, die der Verkündiger segnet als Brückengeher der Überwindung. Kein anderer Typus ist das, als dem in der Bibel das Reich Gottes versprochen wird. Nur dass es bei Nietzsche der Reichtum des «Selbst» ist, was er erlangt, und kein Gottesreich.
Der Tod Richard Wagners am 13. Februar 1883 erschütterte Nietzsche. Er hat ihn aber zugleich als Omen verstanden, dass die Zeit seines neuen Menschen und seiner Vision nun gekommen sei, nachdem alle Götter tot sind, der eine Gott und der Über-Vater quasi als letzter Beschwörer der Götter. Dieter Borchmeyer und Jörg Salaquarda sehen in Nietzsches «Zarathustra» einen Gegenentwurf zur Welt des späten Wagner, einen «Anti-Parsifal» , und das ist ziemlich einleuchtend. Zarathustra geht einen Weg der Selbsterlösung, nicht der Gotteserlösung, aber auch nicht der bei Wagner bislang so häufig vorgeführten Erlösung durch die Frau und die Liebe, was Nietzsche ganz ausnehmend zweifelhaft findet. Schon im früheren Wagner’schen Œuvre wird eine Liebesvorstellung jenseits des Eros beschworen, die Erlösungsfunktion hat und den armen zerrissenen Mann der Moderne – so kann es Nietzsche nur sehen – wieder in ähnliche Sumpf-Fallen lockt wie die Rückkehr zu Gott respektive nach Rom. Es ist jedenfalls sehr eklatant, dass der Großkünstler, der auf die Vita eines Lebemannes zurückblickte und auch nicht zimperlich war mit der finanziellen und energetischen Ausbeutung seiner Umgebung, Mitleid, Gottesliebe und Keuschheit in seinem Werk propagiert und am Ende den Heiligen Geist auf die Bühne bringt, der verklemmte Pfarrerssohn aber, der laut Dokumenten nur auf ärztliches Anraten hin «den Koitus ausübte» und der sanfteste Mensch unter der Sonne war, zum dionysischen Rausch aufruft, freiem Sex, freier Liebe, Selbstsucht und Krieg (ob segensreiche «Selbstsucht» und reine Kriege des Geistes, das möge dahingestellt sein). Gegenspiegelungen von Leben und Werk, Leben und Denken; kaum gibt es ein eindrucksvolleres Beispiel dafür.
Nietzsches ganz große Liebe – und das ist und bleibt die Musik, und zwar namentlich, ohne Bruch, bis zuletzt, Wagners Musik – erhält auch im «Zarathustra» ihre Apotheose. Das Werk sei «unter die Musik» zu rechnen, sagt Nietzsche in «Ecce homo», es ist also seiner Meinung nach eine Komposition. In der Tat hat das (viersätzige) Werk in gewissem Sinne symphonischen Charakter, und die lyrischen Passagen darin sind reine Musik. Wagner wird hier nicht ausdrücklich erwähnt, aber als «Zauberer» ist er doch unverkennbar vorhanden. Nietzsche ist damals der Meinung, dass «Peter Gast» die ruchvolle Stellung des «alten Zauberers» als Schöpfer der Zukunftsmusik ablösen kann, jedenfalls redet er sich das ein paar Jahre lang ein. Oder er impliziert darin etwa seine eigene Vertonung des Salomé’schen Gedichts, dem er den Titel «Hymnus auf das Leben» gab – ein Gemeinschaftswerk Salomé/Nietzsche; vielleicht dachte er manchmal mit Wehmut daran. Und da schließlich Zarathustra auch ein maskierter Dionysos ist, ruft er zum Schluss auch zum Tanz auf, was zwar recht harmlos klingt
Weitere Kostenlose Bücher