Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Scharfsinn und scharfe Sinne verlangt, bereit zu jedem Wagnis, dank einem Überschusse von ‹freiem Willen› mit Vorder- und Hinterseelen, denen keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit Vorder- und Hintergründen, welche kein Fuß zu Ende laufen dürfte, Verborgene unter den Mänteln des Lichtes, Erobernde, ob wir gleich Erben und Verschwendern gleichsehn, Ordner und Sammler von früh bis abend, Geizhälse unsres Reichtums und unsrer vollgestopften Schubfächer, haushälterisch im Lernen und Vergessen, erfinderisch in Schematen, mitunter stolz auf Kategorientafeln, mitunter Pedanten, mitunter Nachteulen der Arbeit auch am hellen Tage: ja wenn es not tut, selbst Vogelscheuchen – und heute tut es not: nämlich insofern wir die geborenen, geschworenen, eifersüchtigen Freunde der Einsamkeit sind, unsrer eignen tiefsten mitternächtlichsten, mittäglichsten Einsamkeit: – eine solche Art Menschen sind wir, wir freien Geister! und vielleicht seid auch ihr etwas davon, ihr Kommenden? Ihr neuen Philosophen? –»
Turin, 1889
«Dionysos gegen den Gekreuzigten»
V on allem Geschriebenen liebe ich nur das, was einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, daß Blut Geist ist.» («Zarathustra»)
Im April 1888 kam Nietzsche erstmals nach Turin. Er war hingerissen und erwog in der piemontesischen Stadt im Nordwesten Italiens bald einen dauerhaften Aufenthaltsort. Das Klima ist mild, subtropisch. Im heißesten Monat Juli beträgt die Durchschnittstemperatur etwa 27 Grad, und in den von Nietzsche so gefürchteten Monaten November, Dezember, Januar ist es immerhin um die 10 Grad warm. Die Stadt ist kein Höhenort wie Sils Maria, «6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit» , wo die heroischen geistigen Empfängnisse stattfinden. 240 Meter über dem Meer gelegen und in einer Ebene, wird Turin im Westen und Norden durch die Alpen und im Süden durch die Hügel des Monferrato begrenzt. Die typisch römische Stadtstruktur mit rechtwinklig zueinander verlaufenden Straßen ist wohl Geschmackssache. Flaubert fand das quadratische Stadtbild und das homogene Häusergefüge langweilig. Aber Nietzsche, aufgrund seiner Sehbehinderung den Blick immer ängstlich zu Boden gerichtet, wenn er durch eine Stadt lief, aufs Naheliegendste hin, hatte für solche architektonischen Details wenig Sinn. Ihm gefielen in Turin zum Beispiel die vielen schönen Cafés – die schönsten, meinte er, die er je sah. So wurde der Philosoph in Turin auch zum passionierten Kaffeehausbesucher. Da konnte man nachdenken auf eine müßige Art und das Leben an sich vorbeiziehen lassen, Menschen beobachten, seelisch flanieren. Auch besitzt die Stadt eine aristokratische Vergangenheit, die recht imposant ist. Die prächtigen Gärten und Paläste Turins sind vornehmlich während der Herrschaft der Herzöge von Savoyen entstanden. Die Universität von Turin, 1404 gegründet, bot Nietzsche beste Voraussetzungen für Bibliotheks- und Archivstudien. Blauer Himmel und ein gemäßigtes Klima, Gärten, Cafés und Paläste, ein herrlicher Brückenort zwischen Norden und Süden, wie er es so liebte. Es schien perfekt. In Sils Maria wurde es manchen Sommer so kalt, dass der steinerne Gast selbst in seinem Zimmer Handschuhe trug. Aber Turin – einfach ein Glück, meinte Nietzsche.
Eine weitere Besonderheit von Turin ist bis heute das Grabtuch, das in einer extra dafür erbauten Seitenkapelle des Doms aufbewahrt wird und das Bild eines Mannes zeigt, das Ganzkörperbildnis der Vorder- und Rückseite eines Menschen – Christi Grabtuch mit Foltermalen, wie es die Pilger verehren als das Tuch, in dem Jesus von Nazareth nach der Kreuzigung begraben wurde und wie es zahlreiche Christusdarstellungen inspirierte. Jesus am Kreuz. Der große Blutmythos wie beim Heiligen Januarius – aber das Original. Und auch echt? Radiokohlenstoffdatierungen unserer Zeit deuten auf einen Ursprung als mittelalterliches Artefakt hin. Nietzsche würde dergleichen wohl mit Interesse zur Kenntnis nehmen, und es würde ihn auch kaum überraschen. Aber die Faszination bliebe doch. Das Christentum trieb ihn um bis zum Schluss.
Dabei sei schon das Wort «Christentum», so Nietzsche in seiner «Umwertung aller Werte», Teil I («Der Antichrist»), ein Missverständnis, da es im Grunde nur Einen Christen gab, und der starb am Kreuz. Es sei falsch bis zum Unsinn, wenn man in einem «Glauben», etwa im Glauben an die Erlösung durch Christus, das Abzeichen des
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