Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Christen sehe. Nur die christliche Praktik, also ein Leben so wie Der, der am Kreuze starb, es lebte, sei christlich. Das Christentum habe, so der Kritiker, einen «Todkrieg» gegen den höheren Menschen und seine Grundinstinkte geführt. «Das Christentum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißratnen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistig schwächsten Naturen verdorben, indem es die obersten Werte der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrte.» Und das Mitleid schließlich, diese verhängnisvollste aller christlichen «Tugenden», da sie wie keine sonst das Ich schwächte und seine Vitalkraft beschnitt; Nietzsche begreift es als eine Anti-Kraft, die das Leben unterminiert. «Man nennt das Christentum die Religion des Mitleidens. – Das Mitleiden steht im Gegensatz zu den tonischen Affekten, welche die Energie des Lebensgefühls erhöhn: es wirkt depressiv. Man verliert Kraft, wenn man mitleidet. Durch das Mitleiden vermehrt und vervielfältigt sich die Einbuße an Kraft noch, die an sich schon das Leiden dem Leben bringt. Das Leiden selbst wird durch das Mitleiden ansteckend; unter Umständen kann mit ihm eine Gesamt-Einbuße an Leben und Lebens-Energie erreicht werden, die in einem absurden Verhältnis zum Quantum der Ursache steht (– der Fall vom Tode des Nazareners). Das ist der erste Gesichtspunkt; es gibt aber noch einen wichtigeren. Gesetzt, man mißt das Mitleiden nach dem Werte der Reaktionen, die es hervorzubringen pflegt, so erscheint sein lebensgefährlicher Charakter in einem noch viel helleren Lichte. Das Mitleiden kreuzt im ganzen großen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der Selektion ist. Es erhält, was zum Untergange reif ist, es wehrt sich zugunsten der Enterbten und Verurteilten des Lebens, es gibt durch die Fülle des Mißratnen aller Art, das es im Leben fest hält, dem Leben selbst einen düsteren und fragwürdigen Aspekt. Man hat gewagt, das Mitleiden eine Tugend zu nennen (–in jeder vornehmen Moral gilt es als Schwäche –); man ist weitergegangen, man hat aus ihm die Tugend, den Boden und Ursprung aller Tugenden gemacht, – nur freilich, was man stets im Auge behalten muß, vom Gesichtspunkt einer Philosophie aus, welche nihilistisch war, welche die Verneinung des Lebens auf ihr Schild schrieb. Schopenhauer war in seinem Recht damit: durch das Mitleid wird das Leben verneint, verneinungswürdiger gemacht. – Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus. Nochmals gesagt: dieser depressive und kontagiöse Instinkt kreuzt jene Instinkte, welche auf Erhaltung und Wert-Erhöhung des Lebens aus sind: er ist ebenso als Multiplikator des Elends wie als Konservator alles Elenden ein Hauptwerkzeug zur Steigerung der décadence, – Mitleiden überredet zum Nichts! … Man sagt nicht «Nichts»: man sagt dafür «Jenseits»; oder «Gott»; oder «das wahre Leben oder Nirvana, Erlösung, Seligkeit … Diese unschuldige Rhetorik aus dem Reich der religiösmoralischen Idiosynkrasie erscheint sofort viel weniger unschuldig, wenn man begreift, welche Tendenz hier den Mantel sublimer Worte um sich schlägt: die lebensfeindliche Tendenz. Schopenhauer war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend … Aristoteles sah, wie man weiß, im Mitleiden einen krankhaften und gefährlichen Zustand, dem man gut täte, hier und da durch ein Purgativ beizukommen: er verstand die Tragödie als Purgativ. Vom Instinkte des Lebens aus müßte man in der Tat nach einem Mittel suchen, einer solchen krankhaften und gefährlichen Häufung des Mitleids, wie sie der Fall Schopenhauers (und leider auch unsre gesamte literarische und artistische décadence von St. Petersburg bis Paris, von Tolstoi bis Wagner) darstellt, einen Stich zu versetzen: damit sie platzt … Nichts ist ungesunder, inmitten unsrer ungesunden Modernität, als das christliche Mitleid. Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen – das gehört zu uns, das ist unsre Art Menschenliebe, damit sind wir Philosophen, wir Hyperboreer! – – –» Und was für ein feiger Duckmäuser-Gott sei es schließlich, den die «Christen» erfanden? Starke Völker, die noch an sich selbst glaubten, projizierten gewöhnlich solche Tugenden in die Gottesvorstellung, durch die es obenauf sei: seine Lust und sein Machtgefühl in ein Wesen gelegt, dem man für seine Überfülle Dank
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