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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
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völlig und leitete seine äußerst eigennützige Familienpolitik. Erfolgreich im macchiavellistischen Sinn war diese Familie bestimmt. Wenn wir uns so den Übermenschen vorstellen sollen, dann ist es ein einigermaßen skrupelbehaftetes Spiel, sich die heutigen Pendants dazu vor Augen zu führen, und außerdem wird wohl auch reichlich klar, dass Nietzsche weltfremd war und die große Politik, auch die der Vergangenheit, nie aus der Nähe betrachtete. Cesare Borgia als Papst – das wäre, so Nietzsche, der Sieg gewesen, das Christentum damit abgeschafft, regelrecht überwunden, und zwar an seinem Sitz. Triumph des Lebens! Das große Ja zu allen schönen, verwegenen Dingen! Und dann kam dieser Mönch aus Wittenberg und reformierte die Kirche. Er stellte sie wieder her und schuf damit gleichzeitig die unheilbarste, die unwiderlegbarste, den Protestantismus. «Wenn man nicht fertig wird mit dem Christentum, die Deutschen werden daran schuld sein …» Nietzsche klagt also an: «Ich verurteile das Christentum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Korruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Korruption gehabt. Die christliche Kirche ließ nichts mit ihrer Verderbnis unberührt, sie hat aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht. Man wage es noch, mir von ihren ‹humanitären› Segnungen zu reden! Irgend einen Notstand abschaffen ging wider ihre tiefste Nützlichkeit: sie lebte von Notständen, sie schuf Not stände, um sich zu verewigen … Der Wurm der Sünde zum Beispiel: mit diesem Notstande hat erst die Kirche die Menschheit bereichert! – Die ‹Gleichheit der Seelen vor Gott›, diese Falschheit, dieser Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Prinzip der ganzen Gesellschafts-Ordnung geworden ist, – ist christlicher Dynamit … ‹Humanitäre› Segnungen des Christentums! – […] Der Parasitismus als einzige Praxis der Kirche; mit ihren Bleichsuchts-, ihrem ‹Heiligkeits›-Ideale jedes Blut, jede Liebe, jede Hoffnung zum Leben austrinkend; das Jenseits als Wille zur Verneinung jeder Realität; das Kreuz als Erkennungszeichen für die unterirdischste Verschwörung, die es je gegeben hat, – gegen Gesundheit, Schönheit, Wohlgeratenheit, Tapferkeit, Geist, Güte der Seele, gegen das Leben selbst … Diese ewige Anklage des Christentums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände gibt, – ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen … Ich heiße das Christentum den Einen großen Fluch, die Eine große innerlichste Verdorbenheit, den Einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist, – ich heiße es den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit … Und man rechnet die Zeit nach dem dies nefastus, mit dem dies Verhängnis anhob, – nach dem ersten Tag des Christentums! – Warum nicht lieber nach seinem letzten? – Nach heute? – Umwertung aller Werte! …» Friedrich Nietzsche: «Der Antichrist».
    Turin in Piemont – Nietzsches Einstiegstor in die Schattenwelt, Ort einer Verklärung, bevor sich ein großer Geist von der Welt verabschiedete und in die Dunkelheit glitt. Nietzsches Briefe der letzten Wochen und Monate handeln von den gewaltigen Erdbeben, die sein Werk auslösen werde, von den Donner- und Wetterschlägen, die die Erde und die Geschichte, wie er sich ausdrückte, in zwei Teile spalte, «bis zu dem Punkte, daß wir eine neue Zeitrechnung haben werden: von 1888 als Jahr Eins an» . Und man schrieb das Jahr 1888, als er das ankündigte. «Der Antichrist», eben fertiggestellt, sollte als «Agitations-Ausgabe» erscheinen, Übersetzungen in alle europäischen Hauptsprachen würden notwendig sein, eine Million Exemplare in jeder Sprache als erste Auflage sah Nietzsche vor. Das schrieb er Anfang Dezember 1888 an Georg Brandes in Kopenhagen, der an der Kopenhagener Universität Vorlesungen hielt über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche, was dieser als Zeichen und Anfang einer bevorstehenden großen Wirkung empfand. Hemmungslos erging er sich Brandes gegenüber in seinen Donnervisionen. Vom «Weltgericht» sprach er und vom «Vernichtungsschlag» . (Man supponiere hier Wagners Fliegenden Holländer in

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