Friesengold (German Edition)
leicht.
»Kein schöner Tod.«
»Nein«, nickte Greven, der sich von seinem Borsalino und seinem alten Kamelhaarmantel ausreichend vor der Kälte geschützt fühlte.
Der Mann vor ihnen hatte indes seine Körpertemperatur komplett verloren. Seine Haut war fast weiß und hob sich nur noch durch einen zarten Rosaton rund um die Nase vom Schnee ab. Er trug weder eine Jacke noch einen Mantel, sondern lediglich Unterhemd, Unterhose und Socken. Sein Mund war mit einem Streifen beigefarbenem Packband zugeklebt, seine Hände mit Kabelbindern am Geländer des Sous-Turms gefesselt. Der Kopf war auf die Brust gesackt, die Augen geschlossen, die wenigen, aber langen Haare, deren Farbe sie nur raten konnten, hingen über der Stirn, die Beine hatte er an den Körper gezogen, was ihn jedoch nicht vor dem Kältetod bewahrt hatte. Schnee hatte es sich auf einigen Körperstellen bequem gemacht, ohne zu schmelzen.
»Wer hat ihn gefunden?«
»Ein Vertreter aus Bielefeld. Er ist sehr früh aufgestanden und wollte vor seiner Rückreise noch schnell zu einem Bankautomaten. Dabei ist er auf den Turm gestoßen.«
»Unser schöner Tauchsieder ist ja auch nicht zu übersehen. Also ist er vom rechten Wege abgewichen, um sich das berühmteste Bauwerk Aurichs einmal aus der Nähe anzusehen.«
»So ungefähr«, klapperte Häring mit den Zähnen. »Zunächst hat er den Toten für einen verschneiten Teil des Turms gehalten, dann für ein ungewöhnliches Gebilde aus Schnee, für eine Art skurriler Schneewehe. Erst als er ein paar Treppenstufen hinaufgegangen ist, hat er erkannt, dass es sich um einen Menschen handelt.«
»Der Schnee«, sinnierte Greven. »Das dürfte auch der Grund sein, warum Onken nicht eher entdeckt wurde. Schnee macht blind. Auch wenn die Sonne nicht scheint. Er macht blind, weil er alles verändert. Das Auge kann sich auf nichts mehr verlassen, kein vertrautes Muster ist mehr gültig, alles muss neu entdeckt werden. Dieser Vertreter war bestimmt nicht der Erste heute früh auf dem Marktplatz. Aber welcher Auricher richtet seinen Blick schon auf den Sous-Turm, wenn es glatt ist und ihm der Schnee von allen Seiten ins Gesicht weht.«
»Ihr nennt es Katastrophe. Wir nennen es Winter.«
»Hat wer gesagt?«
»Der schwedische Botschafter. Heute früh im Radio.«
»Ein kluger Mann«, sagte Greven und betrachtete kurz Härings Winterbekleidung. »So einen könnte der Straßendienst gut gebrauchen. Ganz zu schweigen von der Bahn. Gut, lassen wir das. Was sagen die Kollegen von der Spusi?«
»Hinter dir steht einer.«
Greven drehte sich um. Nur zwei Meter entfernt stand ein Mann in einem schneeweißen Overall, der sich nur dank seines Gesichtes vom Schnee abhob.
»Moin. Gute Tarnung.«
»Moin. So vermeiden wir unnötiges Aufsehen«, erwiderte der Mann.
»Konntet ihr etwas finden? Trotz des Schnees?«
»Dank des Schnees«, antwortete der Mann. »Fußspuren. Das Opfer wurde höchstwahrscheinlich von einer männlichen Person von der Marktpassage zum Turm gedrängt oder gestoßen. Er hat wohl auch mit Schlägen nachgeholfen, denn wir haben mehrere Blutflecke entdeckt, die sehr wahrscheinlich vom Opfer stammen. Die Proben sind schon auf dem Weg ins Labor.«
»Also nur ein Täter«, brummte Greven.
»Wahrscheinlich«, ergänzte der Mann in Weiß.
»Wie soll ich das verstehen?«
»Entweder ist der Täter nach einiger Zeit noch einmal zu seinem Opfer zurückgekehrt. Oder ein anderer Mann hat ihn auf dem Turm aufgesucht. Jedenfalls haben wir noch eine zweite, jüngere Spur gefunden, die zum Turm führt. Das alles natürlich unter großem Vorbehalt.«
»Ich weiß, der Schnee. Aber andererseits hat er doch Spuren konserviert, auf die wir im Sommer hätten verzichten müssen.«
»Sag ich doch«, nickte der Mann, dem Greven mit einem Handzeichen dankte.
»Ich dachte, Schnee macht blind?«
»Nicht bei Fußspuren.«
»Verstehe. Können wir jetzt gehen?«
»Gut«, sagte Greven. »Wir haben alles gesehen. Den Rest erfahren wir, wenn uns Dr. Behrends und die Spusi ihre Berichte vorlegen.«
»Ich kann dir sagen, was drinsteht. Der Täter hat sein Opfer ausgezogen, geschlagen und an der Reling festgemacht. Dort ist er dann jämmerlich erfroren.«
Greven nickte nachdenklich, warf noch einen letzten Blick auf den Toten, drückte sich den Hut in die Stirn und ging langsam die wenigen Stufen hinunter. Häring folgte ihm und war froh, sich endlich wieder bewegen zu können. Ohne auf die Richtung zu achten, die Arme vor der Brust
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