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Friesenherz

Friesenherz

Titel: Friesenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janna Hagedorn
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lass mal diesen heldenhaften Scheiß!«, herrschte sie mich an.
    »Ohne mich wärst du nie hier gelandet.«
    »Das stimmt. Aber ohne dich hätte ich auch eine ganze Menge anderer Dinge nicht verstanden. Und jetzt reiß dich zusammen.«
    Ungefähr fünf Schritte lang schaffte ich es wirklich, an mich zu halten. Das Wasser im nächsten Priel floss mir so eisig um die Knie, dass ich meine Beine kaum noch spürte, aber immerhin verlor ich nicht den Grund unter den Füßen. Trotzdem fürchtete ich, dass es zwecklos war. Die nächste, spätestens die übernächste Salzwassersenke konnten wir nicht mehr schaffen. Die Strömung, die eisige Kälte, meine Verletzung – selbst ein Naturbursche wie Jan wäre jetzt in Schwierigkeiten geraten.
    Auf einmal hörte ich von ferne ein Geräusch in der Luft und hob den Kopf. Ein Knattern und Tuckern, Rotorblätter, die den Nachthimmel durchschnitten, blinkende Positionslichter.
    »Geil!«, schrie Ann und wischte mit beiden Händen über ihre tropfnasse Hose. »Die suchen uns!«
    »Wir müssen winken«, rief ich ihr über das tosende Geräusch des Wassers hinweg zu, »ein Signal geben!«
    Beide rissen wir uns unsere Jacken von den klammen Körpern und schwenkten sie in der Luft, wobei ich versuchte, auf einem Bein zu stehen. Innerlich verfluchte ich die Hersteller von Funktionskleidung. Früher waren Regenmäntel leuchtend gelb, heute reichte die Palette von schlammfarben bis aubergine. Wie sollte uns der Pilot denn so finden, mit einer schlammfarbenen Jacke im Watt?
    Der Hubschrauber kam näher, das Knattern wurde lauter, er sank etwas tiefer. Dann drehte er plötzlich ab und zog eine lange Schleife hinüber in Richtung Festland.
    »Der sieht uns nicht!«, rief Ann verzweifelt.
    Ich ließ mutlos meine Jacke sinken.
    »Vielleicht hat er uns auch gar nicht gesucht.«
    Wortlos griff Ann nach meiner Hand und zerrte mich weiter. Wäre sie nicht gewesen, ich hätte mich einfach hingesetzt und mich wegspülen lassen. Aber da war etwas in ihr, das stärker war als ich, stärker als sie selbst. Etwas, das leben wollte. So kannte ich sie gar nicht. Möglicherweise kannte sie sich selbst so auch nicht. Ich hätte sie gern gefragt, ließ es dann aber lieber bleiben. Wenn wir das hier wirklich überleben sollten, hätten wir noch genügend Zeit zum Reden.
    Wenn.
    Während die Lichter vorhin noch wie durch Milchglas hindurch sichtbar gewesen waren, herrschte jetzt um mich herum nur noch ein diffuses Zwielicht in allen Grauschattierungen. Kalt und nass, dunkel und neblig. Während mein Knöchel bei jedem Schritt Schmerzen durch meinen Körper jagte, begann ich mich zu fragen, ob das schon der Anfang war. Ob wir schon begonnen hatten zu sterben. Zu erfrieren, zu ertrinken. Eine Zwischenwelt, in der ich jedes Gefühl für oben und unten verlor, in der ich irgendwann auch nicht mehr spürte, wo Anns Finger begannen in diesem Knäuel, das uns verband, und wo meine aufhörten. So hatte sich die Liebe angefühlt, früher einmal. Grenzen, die verschwammen. Körper, die eins wurden. Ich hatte nicht gewusst, dass der Tod so ähnlich sein würde.
    Während mein Körper noch immer gegen die Elemente ankämpfte, wurde etwas in mir ganz klein, rollte sich zusammen wie ein Kätzchen, kauerte sich zusammen. Wartete auf den Film. Jetzt war er doch da, dieser Moment, in dem alles noch einmal ablaufen sollte. In dem ich noch einmal in sekundenschnellem Fast Forward alles sehen würde, von meinem Elternhaus mit den moos bewachsenen Gehwegplatten, auf denen sich im Sommer winzige rote Käferchen tummelten, über die Schulstunden, in denen ich mit quietschender Kreide vorne an der Tafel Aufgaben gelöst hatte, die Pausen, Gummitwist und Saure Zungen für zehn Pfennig vom Kiosk. Bis zu dem Moment, in dem ich auf dem Flur meines Studentenwohnheimes stand, das Telefonkabel um meine Finger geschnürt, am Hörer den Studenten mit der sexy Unterlippe, schließlich der Kreißsaal, Ronja, ein kuchenduftendes Bündel auf meinem Bauch, und später …
    Von sehr weit entfernt hörte ich Ann etwas rufen. Es klang aufgeregt, aber ich konnte die Worte nicht mehr verstehen. Irgend etwas mit Treppe und festhalten, wer weiß, durch welche Wel ten sie sich in diesem Moment bewegte, welche Filme gerade vor ihrem inneren Auge abliefen, ob ihr Late-Night-Programm schon begonnen hatte, während meine Leinwand noch immer schwarz blieb. Dann dachte ich, dass es schade war, schade um ihr Kind, das gerade mal Arme und Beine und winzige Finger und

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