Friesenherz
gerade günstig im Volksdorfer Getränkemarkt gab.
Wütend dachte ich daran, was Torge mir von seinem Besuch bei der Polizei erzählt hätte. Dass sich die Beamten geweigert hätten, abends um halb neun nach einem sechzehnjährigen Mädchen zu suchen, das seit Stunden nicht gesehen worden war. Dass sie sogar Scherze gemacht hätten. »Stell dir vor«, hatte Torge empört erzählt, »dann zwinkert mir die Polizistin auch noch so kumpelhaft zu, als wollte sie sagen: Hey, du bist doch auch mal jung gewesen. Ja, haben diese Leute denn keine Kinder? Lesen die keine Zeitung?«
Einige Autos kamen mir entgegen, dann das Inseltaxi, ausnahmsweise mit ausgeknipstem Schild. Von ferne hörte ich eine Schiffssirene, dann das klirrende Poltern, mit dem sich eine stählerne Rampe von der Hafenkante zurückzog.
Im Geiste ging ich meine Weitsprungergebnisse durch, die ich bei den Bundesjugendspielen im Jahr 1986 erzielt hatte. Welche Distanz musste ich schaffen, um die Fähre noch zu erreichen? Zwei, drei, vier Meter? Wie viel Extrasprungkraft würde mir die Verzweiflung verleihen, wenn es darum ging, meine Tochter zu retten?
Als ich um die Ecke bog und der Hafen vor mir lag, sah ich es sofort. Alle meine schlimmsten Befürchtungen hatten sich erfüllt. Schwerfällig und mit einem Tuten setzte sich die Rungholt in Bewegung, im kalten Licht der gelben Bogenlampen, und legte ab in Richtung Festland. Schreiend und winkend lief ich hinterher, so als wäre der Kapitän ein Busfahrer, der gutmütig seufzend noch ein mal anhalten und die Türen ein letztes Mal öffnen würde. Schwach konnte ich das andere Ufer erkennen, die Lichter des Hafens auf dem Festland, die Beleuchtung eines Windparks.
Und dann sah ich noch etwas. Dort, wo eben die Rampe hochgeklappt war und die Digitalanzeige auf der Tafel umsprang, von »Abfahrt 21:15 Uhr« auf »Abfahrt 6:30 Uhr«, stand eine einzelne, schmale Gestalt mit einem riesigen Campingrucksack und sah mir entgegen.
Keuchend bremste ich ab, im letzten Moment, ehe mich mein eigener Schwung ins Hafenbecken katapultiert hätte. Ann stand vor mir und wischte sich mit der Handkante Tränen aus dem Gesicht.
»Gott sei Dank«, sagte sie, »Gott sei Dank bist du gekommen.«
»Wieso?«, keuchte ich, »was machst du überhaupt noch hier?«
»Ich habe dich gesehen!«, schluchzte sie. »Gerade, als die Schranke runterging, ich war schon auf der Fähre, da habe ich gesehen, wie du ein Stück oben auf dem Deich langgerannt bist. Da war mir klar, du lässt mich nicht einfach fahren. Du lässt mich nicht einfach im Stich. Es ist dir nicht egal, was mit mir ist und mit dem Kind. Hätte ich da einfach wegfahren können?«
Und ehe ich es mich versah, war sie mir um den Hals gesunken und klammerte sich an mich wie eine Ertrinkende.
»Ihr seid so gute Menschen, Torge und du«, stieß sie zwischen erstickten Schluchzern hervor, »dabei seid ihr so uncool … aber auch so lieb … ich glaube, ihr habt mir das Leben gerettet.«
Vorsichtig nahm ich ihre Arme und löste sie von meinem Hals. Ich spürte, wie ich langsam wieder zu Atem kam.
»Ist schon gut«, sagte ich finster, »ich hab jetzt gerade ganz andere Sorgen.«
Sie rieb sich die Augen, mit geballten Fäusten, wie ein kleines Kind, und sah mich verdutzt an.
»Andere Sorgen? Bist du … bist du gar nicht wegen mir so gerannt?«, fragte sie ängstlich.
»Ronja ist weg«, sagte ich und warf einen letzten Blick auf die Rücklichter der Fähre. Zu meiner Rechten glänzte das Watt im Mondlicht, und in der Ferne blinkten die Lichter von Föhr. Gar nicht weit von hier waren wir vor ein paar Tagen zu unserer ersten Wattwanderung aufgebrochen, im Sturm.
Und plötzlich wusste ich, was zu tun war.
Ich schob Ann zur Seite wie eine anhängliche Katze und lief zu der Anschlagtafel mit den Fährzeiten, die an der Seite des Karten schalterhäuschens angebracht war. Hier standen nicht nur die Abfahrtzeiten für Boldsum, sondern auch für die größere Nachbar insel. Und tatsächlich: Von Föhr aus gab es noch eine spätere Verbindung, in einer Dreiviertelstunde.
Ich versuchte mich zu erinnern, was Jan gesagt hatte. Es musste ungefähr hinkommen: Wenn ich im gleichen Tempo loslief, das ich auf dem Festland vorgelegt hatte, dann konnte ich in weniger als einer Dreiviertelstunde dort drüben sein. Und heute Abend noch in Hamburg. Ich griff in die Träger meines Rucksacks, als könnte ich mich daran festhalten, dann ging ich auf die Kaimauer zu, von der aus eine Treppe zum
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