Friesenherz
Strand führte. Jetzt galt es, keine Zeit zu verlieren.
Für einige Augenblicke war es ganz still um mich herum. Alles, was ich hörte, war eine einsame Möwe, die so aufgeregt herumkrakeelte, als hätte sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Fisch gefangen. Dann, als ich schon die halbe Treppe hinuntergestiegen war, vernahm ich Schritte hinter mir.
»Was hast du vor?«, rief Ann. Sie klang ängstlich wie ein kleines Mädchen, das von seiner Mutter auf dem Bahnhof einfach stehen gelassen wurde. Ich gab keine Antwort und nahm stoisch eine Stufe nach der anderen. Ein fischiger Geruch drang vom Watt herauf. Ich fasste die Riemen fester.
Schließlich war Ann neben mir. »Was hast du vor?«, fragte sie noch einmal. »Du willst doch nicht etwa …«
»Und ob«, gab ich grimmig zurück, »und ob ich das will.«
Ann packte mich an der Schulter. »Das ist doch Wahnsinn!«, sagte sie eindringlich. »Maike, das ist Selbstmord! Du weißt doch genau, was Jan gesagt hat!«
Ich riss mich los. »Jan hat keine Ahnung«, sagte ich grimmig, »Jan hat von überhaupt nichts eine Ahnung. Ich gehe jetzt los, meine Tochter suchen. Das hätte ich schon längst tun sollen, wenn ihr mir nicht alle in die Quere gekommen wärt. Jan, Torge und du.«
Mittlerweile waren wir auf dem nassen Sandstreifen angekom men, der Strand und Watt voneinander trennte. Im Mondlicht glitzerte alles. Selbst die Wattwurmhäufchen funkelten, als wären sie nicht die Ausscheidungen niederer Kriechtiere, sondern feine Silberkettchen für Meerjungfrauen. Geschmeide aus dem sagenhaften Schatz, den die Frau mit dem roten Rock bewachte.
Ich blieb stehen und sah Ann fest in die Augen. Die Verwunderung war daraus gewichen und hatte einer Entschlossenheit Platz gemacht, die ich so noch nie bei ihr gesehen hatte. Es war seltsam. Zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, dass eine erwachsene Frau vor mir stand. Und nicht ein gealtertes Mädchen.
»Maike, jetzt überleg doch mal«, sagte sie fest. »Wahrscheinlich ist überhaupt nichts Schlimmes passiert! Wahrscheinlich vergnügt sie sich gerade auf irgendeiner Party mit ihrem Kerl und hat einfach die Zeit vergessen. Oder sie merkt, dass ihre Eltern gerade mit sich selbst beschäftigt sind, und nutzt das aus. Hätte ich auch gemacht, mit sechzehn.«
»Du hast einfach keine Ahnung«, gab ich aufgebracht zurück, »du weißt nicht, wie es ist, ein Kind zu haben.«
»Wenn du da jetzt rübergehst …«, begann Ann und sah mich drohend an. Aber sie brachte den Satz nicht zu Ende.
»Na?«, fragte ich. »Was dann?«
Mit einer anmutigen Geste griff Ann in die Trageriemen ihres Campingrucksacks und stellte das Gepäckstück mit Schwung in den Sand.
»Was soll das?«
»Ist doch klar. Auf so einer waghalsigen Tour kann man kein überflüssiges Gepäck gebrauchen.«
Und ehe ich es mich versah, war sie schon losmarschiert, hinein in die nasse, kalte, lichtfunkelnde Wüste.
Wir waren noch keine zehn Minuten gelaufen – ich mit meinen Gummistiefeln, die ständig schlupften und mich aus dem Gleichgewicht bringen wollten –, als es passierte. Ich fiel.
29
»Es geht nicht! So kommen wir nie voran! Die Bake ist viel zu weit draußen!«, keuchte ich und versuchte, mich auf Anns Rücken leicht zu machen. Ohne Erfolg.
»Halt den Mund und halt dich fest«, knurrte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Ann«, keuchte ich, »das hat doch keinen Sinn!«
»Aber umkehren bringt auch nichts!«, keuchte sie zurück. »Wir sind schon viel zu weit vom Ufer entfernt. Weiterlaufen ist unsere einzige Chance. Auf der Rettungsplattform sind wir sicher.«
Hätte ich doch nur von vorneherein meinen Mund gehalten! Aber nein, wir hatten auch noch Konversation treiben müssen auf unserem Wahnsinnsweg. Hätte ich mich stattdessen darauf konzentriert, wo ich hintrat, dann wäre ich vielleicht nicht in das Schlammloch gerutscht. Und Ann müsste mich jetzt nicht auch noch huckepack tragen, auf diesem aussichtslosen Weg. Eine schwangere Frau auf dem Weg ins Nirgendwo.
Hatten wir wirklich ein solches Ende verdient, sie und ich?
Sie packte meine Schenkel fester, und ich stöhnte auf vor Schmerz. In meinem Knöchel pochte es, als hätte eine ganze Handwerker innung darin Platz genommen. Flüchtig kam mir der Gedanke, dass die Verletzung sogar etwas Gutes hatte. Weil ich gar nicht anders konnte, als mich auf den pochenden Schmerz zu konzentrieren, weil er so viel Aufmerksamkeit forderte wie ein hungriges Baby, hatte ich weniger Zeit, mich um eine
Weitere Kostenlose Bücher