Friesenherz
träumerisch. »Einfach so abhauen, ohne Spuren zu hinterlassen?«
»Weißt du was?«, sagte ich entschlossen. »Ich hätte wahnsinnig Lust …«
»Du hättest wahnsinnig Lust?«, fiel er mir ins Wort, übereifrig wie ein kleiner Junge.
Und auf einmal hatte ich eine Ahnung, was er in mir sah. Er fand mich nicht interessant, obwohl ich beinahe seine Mutter hätte sein können, sondern gerade deswegen . Ich war die ältere Frau . Er der jüngere Mann . Die Liebeslehrerin und ihr ehrgeiziger Schüler. Nur, dass ich vor ein paar Tagen nicht geahnt hätte, dass ich mich jemals in dieser Rolle wiederfinden würde. Auf dieses Lehramt konnte einen das beste Studium nicht vorbereiten. Eher jahrelange Erfahrung. Mit der ich beim besten Willen nicht dienen konnte.
Aber jetzt gab es nur noch die Flucht nach vorn.
»Ich hätte wahnsinnig Lust auf einen Kaffee«, sagte ich. »Mit Meerblick.«
Jan sah peinlich berührt auf seine Schuhspitzen. »Ja. Voll gerne, echt. Aber bitte nicht in dem Laden, in dem meine … in dem Frauke arbeitet.«
»So?«, fragte ich und spürte, wie mein Herzschlag sich in meinem ganzen Körper ausbreitete. »Die Dame soll uns wohl nicht zusammen sehen?«
»Nein.« Er wand sich vor Peinlichkeit. »Nicht deshalb. Gar nicht. Also, überhaupt nicht. Aber es ist … weißt du, es ist schwierig, wenn man Schluss macht und an einem Ort mit weniger als fünfhundert Einwohnern lebt.«
Also doch. Von wegen Cousine.
»Ihr wart mal zusammen«, stellte ich fest.
Er nickte erst, dann schüttelte er heftig den Kopf. »Nee. Das heißt, ja … also, irgendwie schon. Aber auf Dauer … weißt du, die Frauke … was soll ich sagen … also sie ist ein nettes Mädel, aber ich sag immer, es gibt zwei Sorten von Menschen auf der Welt. Die mit Fantasie. Und die ohne.«
Und dann schenkte er mir einen gierigen Blick, bei dem es mir heiß den Rücken herunterlief, weil Jan keinen Zweifel daran ließ, zu welcher Kategorie er mich zählte. Ein Blick, für den ich ihm alles verziehen hätte. Weit mehr als sein teenagerhaftes Gestammel.
Außerdem war ich ja auch nicht besser. Was das Gestammel anging, meine ich.
»Vorschlag«, sagte er, »ich hol uns da eben zwei Coffee to go aus dem Waffelladen, und wir setzen uns damit auf den Deich. Ist doch ganz schön noch heute, in der Mittagssonne.«
Ich nickte, begeistert und überwältigt. Noch immer, so beruhigte ich mich, war nichts passiert, das mein Mann nicht hätte wissen dürfen. Aber dennoch, das spürte ich ganz deutlich, dennoch fing hier etwas an, das ein anderes Gefühl mit sich brachte, ein Gefühl von Camping und Ferienbeginn und einer Reise ins Blaue. Und dazu passte es schließlich perfekt, dass wir uns mit Pappbechern auf eine Bank setzten und nicht in den spießigen Indoor-Strandkorb unter Fraukes Aufsicht.
Ich blieb am Grabstein stehen, Jan eilte davon in Richtung Waffelladen und wandte sich auf halbem Weg noch einmal um.
»Lauf nicht weg, ja?«, sagte er atemlos.
Ich lächelte mein schönstes Femme-fatale-Lächeln, ein Lächeln, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich es überhaupt draufhatte. Von innen fühlte es sich jedenfalls sehr echt an.
»Wer weiß?«, sagte ich. »Frauen sind unberechenbar.«
Ich sah ihm nach, seinem federnden Gang, als hätte er Gummibänder in seinem Körper, und fühlte mich innerlich schmelzen, als plötzlich das Handy in meiner Innentasche piepte. Ich fummelte hektisch danach, dann starrte ich auf das Display. Die Nachricht war von Ronja. Und sie enthielt nur zwei Worte.
»Mama: Fax?«, stand dort.
Ich überlegte nicht lange, sondern tippte auf »Antworten«.
Dafür brauchte ich auch nicht mehr als zwei Worte.
»Ronja: Nee.«
Selten hatte mir das Versenden einer Nachricht ein solches Hochgefühl beschert. Egal, für wie erwachsen sich Ronja hielt, ich konnte sie immerhin noch davon abhalten, sich ihr Leben zu versauen. Auch wenn sie mich für eine fiese Spielverderberin hielt.
Während mein Handy noch einen pfeifenden Ton von sich gab, der signalisierte, dass die Nachricht jetzt irgendwo auf Funkwellen Richtung Hamburg schwebte, kam Jan schon wieder zurück. Er marschierte auf mich zu und blieb mit den gedeckelten Kaffeebechern vor mir stehen.
Jetzt, dachte ich. Wenn ich in diesem Spiel den Part der Liebeslehrerin hatte und er den des Schülers, dann war jetzt mein Einsatz. Einen Augenblick lang wurde mir schwindlig. Dann schloss sich die Erde unter mir wieder, als sei nichts gewesen, und ich atmete tief
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