Friesenherz
bedacht, meinen Oberkörper in genau der gleichen Position zu halten wie vorher. Denn da war ja noch die Stelle, auf der Jans Hand lag. Und die sollte mal schön da liegen bleiben.
Noch, so redete ich mir ein, hätte Torge zusehen können, ohne Verdacht zu schöpfen. Noch hatte ich nichts getan, nicht im Ent ferntesten, das meine Ehe gefährdete. Vielleicht meinen Stoffwech sel, ja, vielleicht die Zustände in meiner Herzregion oder auch in etwas tiefer gelegenen Körperteilen – aber nichts, das mich als potenzielle Ehebrecherin auswies.
Plötzlich musste ich daran denken, wie ich eines Tages unsere Nachbarin getroffen hatte, als sie im Getränkemarkt stand und weinte. Schluchzend hatte sie auf eine Kiste Sprudel gedeutet, Kohlensäure medium. »Jetzt erst verstehe ich, was das heißt, eine geschiedene Frau zu sein. Niemand mehr, der mir die Kisten trägt.«
Ich verdrängte die Erinnerung mit aller Kraft und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Das war nicht weiter schwierig. Das Schöne war ja direkt vor meiner Nase, hatte meerblaue Augen und salzverkrustete Wimpern.
Ich fasste den Grabstein fester an. Er war kühl und feucht unter meinen Fingern.
»Und wieso ist der Grabstein so berühmt?«, fragte ich angestrengt.
Auf den ersten Blick unterschied ihn nichts von den umliegen den, mit viel verschnörkelter, schwer zu lesender Schrift und einem schnittigen Viermaster darauf.
»Das ist das Grab von Kapitän Laurissen«, erklärte Jan, »aber das Coole ist: Da liegt wahrscheinlich alles Mögliche, nur nicht sein Skelett.«
»Wie das?«
»Der Kapitän hatte eine ziemlich unangenehme Frau, sagt man. Und weißt du, das war früher, also so vor hundert, zweihundert Jahren. Jedenfalls lange her. Und damals konnte man sich ja nicht eben so, zack, scheiden lassen.«
Welch begabter Hobby-Historiker Jan war! Wie scharf in seinen Analysen! Ich war beeindruckt.
Jetzt ließ er seine Hand doch sinken, und ich war verblüfft, wie sehr sie mir jetzt schon fehlte, diese warme Berührung durch das Polster von Windjacke und Fleecepullover hindurch.
Aber Torge, der hätte weiterhin in aller Seelenruhe zusehen können.
»Na, jedenfalls, man sagt, der Kapitän habe sich einfach abgesetzt. Sei nach Amerika ausgewandert. Habe alles stehen und lie gen lassen. Aber vorher hat er noch mithilfe von ein paar Freunden aufwendig seinen Tod inszeniert, damit ihn keiner sucht. Auch nicht seine Olle.«
»Und was ist dann dort begraben?«
»Genau weiß es keiner.« Jan lachte. »Aber man nimmt an, ein paar Kalbsknochen.« Er ließ den Blick über die windschiefen Steinreihen schweifen und grinste.
»Ja, die toten Steine hier. Die erzählen eine Menge von mehr oder weniger guten Beziehungskisten. Und mehr oder weniger treuen Kapitänen.«
»Und die Frauen?«, fragte ich.
Jan zuckte die Schultern. »Hatten es auch nicht leicht. Im Winter, wenn die Männer auf See waren, mussten die hier bei Hochwasser auf die Felder, um ihre panischen Kühe zu beruhigen. Standen tage- und nächtelang bis zur Hüfte im eisigen Wasser. Und dann waren sie auch noch ständig schwanger. Ich meine, nicht die Kühe. Sondern die Frauen. Obwohl, die Kühe natürlich auch.«
»Dein Grundgedanke ist mir schon klar«, sagte ich freundlich und hasste mich dafür. Jetzt sprach ich auch noch mit ihm wie mit einem Schüler, der sich beim Referat verhaspelt, obwohl er grund sätzlich gut vorbereitet ist.
Ich war allerdings sehr viel nachsichtiger mit Jan, als ich jemals mit einem meiner Siebtklässler gewesen wäre.
»Jedenfalls«, Jan fuhr sich mit den Fingernägeln durch die Haare, dass es ein knirschendes Geräusch machte auf der Kopfhaut, »jedenfalls, ich weiß nicht, ob die noch Energie hatten für irgendwelche Affären.«
»Och, vielleicht gab es ja doch den ein oder anderen sexy Stall knecht«, sagte ich leichthin und hatte im nächsten Augenblick das Gefühl, dass ich mich schon wieder im Ton vergriffen hatte. Sicher, der Lehrer-Jargon war hier nicht angemessen. Aber gleich so? Als würde ich sexy Stallknechte reihenweise zum Frühstück verspeisen?
Jan sah mich an. Ich sah nicht weg. Alles begann sich zu drehen. Der Strudel unter den Füßen, aber zur Unzeit. So weit waren wir ja noch gar nicht. Schnell hielt ich mich am Grabstein fest.
»Gentlemanlike ist das ja nicht, was der Herr Laurissen da ge tan hat«, fügte ich ein bisschen zu schnell hinzu, »aber verstehen … verstehen kann ich den Mann schon.«
»Hat was, oder?« Jan nickte
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