Friesenherz
vorstellen können für ein zufälliges Treffen. Aber ich war nicht wählerisch. Und ich hatte auch keine Zeit mehr zu verlieren.
Leider hatte es nicht nur gute Seiten, dass ich mich plötzlich gleichzeitig wie zwanzig und wie vierzig fühlte. Ich reagierte auf Jans Anblick wie ein Teenager. Wie ein extrem uncooler Teenager aus dem Jahr 1987. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und alles fühlte sich falsch an. Mein Mund zu groß und mit zu vielen Zäh nen gefüllt, meine Nase im Weg, meine Augen plötzlich von einem unergründlichen Juckreiz befallen. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich unauffällig wegzuducken, mich im Straßengraben zusammenzukauern, um nur nicht gesehen zu werden, und gleichzeitig das nicht minder dringende Bedürfnis, mich Jan willenlos an den Hals zu werfen.
Gleichzeitig fragte ich mich, wie er reagieren würde, wenn er tatsächlich mehr von meinem Körper zu sehen bekommen würde als bisher bei Wattwanderungen in Sturm und Regen. Hatte er jemals von Nahem die nackten Oberarme einer Frau über fünfunddreißig gesehen, die Besenreiser an den Waden? Ganz zu schweigen von diesem kleinen Hautlappen in der Körpermitte. Mit Torge war das kein Problem, nie gewesen. Mein Bauch war mit ihm älter geworden, und außerdem war es dieser Bauch, in dem unsere Tochter herangewachsen war. Manchmal streichelte Torge selbstvergessen dieses schlaffe Hügelchen, küsste es und sagte: Hallo, Babywohnung. Mit einem anderen Mann war das selbstredend etwas ganz anderes.
Nur mal angenommen, ganz theoretisch, ich würde mich wirklich vor Jan ausziehen – wie sehr würde er sich beherrschen müssen, um seine Enttäuschung zu verbergen?
Aber das war, wie gesagt, nur der erste Moment.
Im nächsten Moment begriff ich, dass etwas entscheidend anders war als mit zwanzig. Und wenn ich sage, ich begriff es, dann meine ich, dass nicht nur mein Kopf begriff, sondern jede Körperzelle bis in meine kleinen Zehen hinein auf einmal erfüllt war von Gewissheit: Da kam nicht nur der aufregendste Mann des Universums, sondern da kam auch ein Mann, der mich für die aufre gendste Frau des Universums hielt. Na gut, vielleicht nicht des Universums, aber doch immerhin unserer Reisegruppe. So hatte es jedenfalls Ann gesagt, unmissverständlich. Und das war ja schon mal was.
Ich duckte mich also nicht weg. Sondern lehnte mich halbwegs lässig an einen Grabstein und sah ihm entgegen, wie er auf mich zukam. So konnte ich das Schauspiel auf seinem Gesicht live und in Farbe erleben, das kurze Stutzen, dann das Strahlen, die nervöse Geste, mit der er sich die Locken aus der Stirn strich, mit weit gespreizten Fingern.
»Hey«, sagte er, »gerade hab ich an dich gedacht.« Er kam mit beinahe tänzelnden Schritten auf mich zu, dann blieb er stehen und legte mir eine Hand auf den Oberarm.
Und ließ sie einfach liegen. Ganz selbstverständlich, als gehörte sie dorthin. Mir wurde erst warm, dann heiß. Und das lag nicht nur daran, dass sich zum ersten Mal in dieser Ferienwoche die Sonne blicken ließ und der Wind sich in ein leises Lüftchen verwandelt hatte.
Kurz kam es wieder, dieses merkwürdige Kehle-zu-und-Mund-zu-groß-Gefühl, aber es verflüchtigte sich rasch.
»Sehr schmeichelhaft«, sagte ich, »du gehst über den Friedhof, vorbei an den ganzen morschen Gebeinen, und da fällt dir ein: Mensch, die gute alte Maike, seit gestern nicht gesehen!«
Noch während ich sprach, merkte ich, dass ich schon wieder einen Fehler machte. Musste ich denn ausgerechnet jetzt darauf herumreiten, dass ich so viel älter war als er, ja, nahezu im Ren tenalter? Als Nächstes würde er mich vielleicht zum Essen einladen, und ich würde glatt den Seniorenteller bestellen. Der Boldsumer Gastronomie traute ich zu, dass die hier noch so etwas anboten. Königinpastetchen im Reisrand, leicht zu kauen auch für die dritten Zähne.
Aber er grinste mich so charmant an, dass ich meine Sorgen schnell vergaß. Wahrscheinlich hatte er gar nicht so weit gedacht. War es nicht immer so beim Flirten, dass es gar nicht so sehr darauf ankam, was gesagt wurde, sondern viel mehr darauf, wie es gesagt wurde, in welchem Ton, mit welcher Art des Lächelns? Gott, war ich aus der Übung.
Vielleicht sollte ich lieber Jan reden lassen.
Immerhin tat er mir den Gefallen.
»Das, wo du da gerade deine Finger drauf hast«, sagte er und deutete auf den Grabstein, »das ist übrigens der berühmteste Stein auf dem ganzen Friedhof.«
Ich verrenkte den Hals, ängstlich darauf
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