Friesenherz
haben. Of fensichtlich fuhren die Fähren wieder. Endlich!
Ich konnte also jederzeit packen und gehen.
Aber wollte ich das wirklich? Musste ich das? Auf einmal war ich mir nicht mehr so sicher. Bei Weitem nicht mehr so sicher wie am Sonntag im Café oder vorgestern früh im Dharma-Seminar.
Vielleicht hatten die anderen ja gar nicht so unrecht. Vielleicht musste wirklich jeder seine eigenen Erfahrungen machen und seine eigenen Fehler.
Und damit meinte ich nicht nur meine Tochter.
Schließlich brach Ann das Schweigen.
»Och, von mir aus … also, ich müsste mir die Umstände nicht machen.«
»Das sehe ich genauso«, pflichtete ich ihr bei, »Ann und ich, wir haben mittlerweile festgestellt, dass wir doch so einiges gemein sam haben.«
»Und außerdem sind es ja auch nur noch vier Nächte«, sagte Ann und nahm einen kräftigen Schluck lauwarmes Wasser mit Kreuzkümmelaroma.
Noch vier Nächte. Wieder begann etwas in meinen Adern vor sich hin zu blubbern, aber diesmal fühlte es sich nicht nach heißer Schokolade an. Vier nutzlose Tage hatte ich verstreichen lassen, während das Abenteuer meines Lebens an meiner Tür kratzte. Während ein Geschenk direkt vor mir auf dem Tisch lag, mit einer rosa Schleife, und ich nicht gewagt hatte, es auszupacken. Verheiratet oder nicht, in dem Moment wurde mir eines klar: Wenn ich Jan abwies, würde ich das für den Rest meines Lebens bereuen.
Jan war jung und sexy.
Ich war vierzig.
Vielleicht war er meine letzte Chance. Die letzte Chance, noch einmal diesen Rausch des Anfangs zu erleben. Den Moment vor dem ersten Kuss. Den Strudel, der mir den Boden unter den Füßen wegzog.
Lisi Schleibinger ließ den Schlüsselring noch ein paarmal um ihren Zeigefinger Karussell fahren, bis er erlahmte. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab.
»Zefix!«, hörten wir sie murmeln. »Des is a verkehrte Welt, heut Morgen. Erst ist über Nacht der Räucherlachs weg, dann wollen die zwei Damen auch noch freiwillig in einem Bett schlafen.«
Es klang so, als fände sie die zweite Tatsache noch deutlich bemerkenswerter als die erste.
18
An diesem Morgen bekam mein Gefühl für Zeit und Raum einen seltsamen Knick.
Ich wusste natürlich genau, wo ich war, wie alt ich war und wo ich im Leben stand. Doch es fühlte sich an, als wäre ich gleichzeitig zwanzig und vierzig. Als lehnte ich auf dem Flur meines Studentenwohnheims an der Wand, das Kabel des altmodischen Tastentelefons vor lauter Anspannung um die Finger gewickelt bei diesem einzigen, kostbaren Telefonat mit diesem Jungen mit der großen, weichen Unterlippe, und stände gleichzeitig am Frühstücksbüfett dieses Wellnesshotels, genauer gesagt, an dem Ende des Frühstücksbüfetts, an dem verschiedene Kornbreie in stählernen Warmhalteschalen warteten.
Es war wie im Transitbereich eines Flughafens, beim Umsteigen, wenn man ein fremdes Land betrat, ein Land mit Staatsflagge und Nationalhymne und demokratisch gewählter Regierung, aber gleichzeitig das Gefühl hatte, als schwebte man noch in zehntausend Meter Höhe durch die Luft. Es war, wie wenn ich Fotos meiner Tochter betrachtete und das Mädchen mit dem Cam pingrucksack und dem entschlossenen Blick nicht ansehen konnte, ohne gleichzeitig das Baby auf dem Wickeltisch vor meinen Augen zu haben. Ich war in einem Niemandsland, dessen Gesetze ich nicht kannte. Das konnte im Umkehrschluss auch heißen: Die Ge setze galten nicht für mich. Und nichts von dem, was ich gestern noch für unglaublich wichtig gehalten hatte, schien mir heute noch von großer Bedeutung zu sein. Nicht einmal die Frage, ob meine Tochter sich ihr Leben versaute, indem sie unanständige Fotos für immer in den gierigen Schlund eines weltumspannenden Computernetzes entließ.
Die anderen hatten recht. Irgendwann musste ich loslassen.
Nur wenige Stunden nach der Einreise in dieses seltsame Zwischenreich lief ich Jan über den Weg.
Das wiederum hatte nichts mit den mysteriösen Gesetzen meines neuen Aufenthaltsortes zu tun, es war auch kein kosmisches Zeichen, sondern lag absolut innerhalb der normalen Grenzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Auch dass es ausgerechnet auf dem Friedhof war, war naheliegend. Denn der Friedhof lag genau zwischen einem dänischen Eis-und-Waffel-Laden und einem Geschäft mit Strandbedarf, sodass der Weg zwischen den bemoosten alten Steinen mit ihren kunstvoll eingearbeiteten Schiffsreliefs vermutlich zu den meistgenutzten des Ortes gehörte. Wenn man sich auch romantischere Plätze hätte
Weitere Kostenlose Bücher