Friesenkinder
Erneut rannten einige Schwestern an ihr vorbei. Diesmal bemerkte man sie und wies sie in scharfem Ton an, wieder in ihr Zimmer zu gehen. Ganz offensichtlich war hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Marlene folgte der Anweisung nicht, stattdessen wurde sie beinahe magisch angezogen von einem Geräusch, das aus dem Säuglingszimmer kam. Es war ein Schreien wie unter Schmerzen, vermischt mit Schluchzen, anders konnte sie es nicht beschreiben. Sie hatte auf jeden Fall noch nie etwas Ähnliches gehört. Es waren nur noch wenige Schritte, die sie von der Tür trennten, und das Geschrei wurde immer lauter. Hinzu kam das Weinen mehrerer Babys, die wahrscheinlich durch den Lärm aufgewacht waren.
Marlene steckte ihren Kopf um die Ecke und sah ins Innere des Zimmers. Dort stand Miriam Kuipers. Die erbärmlich verzweifelten Laute kamen aus ihrem Mund, ihr Körper krümmte sich, als habe sie entsetzliche Schmerzen, aber von den Schwestern und Ärzten war niemand zu sehen. Miriams Hände hatten sich in das Gestell eines Babybettchens gekrallt. Die Knöchel traten weiß hervor. Marlenes Blick wanderte zum Bettchen. Sie befürchtete das Schlimmste. Doch es war leer.
Thamsen fuhr die Dorfstraße entlang Richtung B5. Das Dorf schien so friedlich. Mütter schoben ihre Kinderwagen über die Gehsteige, Schulkinder, mit schweren Tornistern beladen, kamen von der Schule heim, hier und da hielten die Leute einen Klönschnack. Das Leben in einem kleinen Ort war beschaulicher, die Zeit schien irgendwie langsamer zu laufen. Und obwohl Niebüll nun wirklich keine große Stadt war, kam es ihm dort doch hektischer und stressiger vor. Das fiel ihm immer ganz besonders beim Autofahren auf, die Leute waren derart ungeduldig, hatten es immer eilig. Hier in Risum–Lindholm schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Doch der Schein trog. Die Schmierereien an der Schule waren nicht der einzige Beweis dafür. In den vergangenen Jahren hatte es etliche Delikte gegeben und sogar den einen oder anderen Mord.
Er bog auf die Bundesstraße ab und gab gleich hinter dem Ortsschild Gas. Heute wollte er nicht den maroden Weg nach Leck fahren, sondern nahm den Umweg über Klintum gern in Kauf.
Er wollte noch einmal mit der Witwe sprechen. Aus den Praxishelferinnen war nichts herauszubekommen gewesen, obwohl er das Gefühl gehabt hatte, auch sie verheimlichten ihm etwas. Vielleicht hatte es doch Anfeindungen gegen den Arzt gegeben? Nach den Angaben von Dörte Paulsen waren Drohbriefe ebenso wie verbale Übergriffe der Neonazis ja anscheinend an der Tagesordnung. Warum also sollte der ausländische Gynäkologe nicht davon betroffen gewesen sein? Fraglich nur, warum die Arzthelferinnen dann nichts erzählten. Hatten sie Angst? Beinahe war es ihm so vorgekommen, doch er konnte sich nicht erklären, warum. Vielleicht wusste die Witwe mehr über die Vorfälle in der Praxis.
Er parkte den Wagen vor dem kleinen, aber durchaus ansehnlichen Haus und ging den Weg zur Haustür hinauf. An dem Eingang gab es keinerlei Hinweise auf den Bewohner. Das fiel ihm erst heute auf. Kein Namensschild. Nichts.
Er klingelte und kurz darauf öffnete wie bei seinem letzten Besuch die Schwiegermutter des Ermordeten. Wortlos ließ sie ihn eintreten. Er folgte ihr ins Wohnzimmer, wo heute neben der Witwe ein älteres Ehepaar auf dem Sofa saß.
Er grüßte flüchtig in die Runde, murmelte eine Beileidsbekundung, da er annahm, die Herrschaften seien die Eltern des Toten. Diese nickten flüchtig und starrten ihn an.
Wieder fiel ihm diese unheimliche Schönheit von Nesrim Merizadi auf. Trotz aller Trauer schien sie wie ein Diamant zu strahlen. Mit großen dunklen Augen blickte sie ihn an. Er musste schlucken, denn die Hoffnung, den Täter bereits gefunden zu haben, die in diesen schwarzen Seen aufblitzte, musste er leider enttäuschen. Er war nicht wirklich weiter bei der Tätersuche als bei seinem letzten Besuch und das musste er ihr sagen.
Alle Anwesenden senkten den Blick, als er zugab, noch keine brauchbaren Spuren von dem Mörder zu haben.
»Wer tut nur so etwas?«, schluchzte der alte Mann und schlug seine Hände vors Gesicht. Sein Körper wurde vom Weinen geschüttelt. Er war ein gebrochener Mann. »Nun ja, es gibt Hinweise darauf, der Täter könne aus der rechtsradikalen Szene stammen.« Nesrim Merizadi zuckte merkbar bei seinen Worten zusammen. Er nahm an, die Vorstellung, dass ihr Mann irgendwelchen Neonazis in die Hände gefallen sein könnte, erschreckte sie. »Seit
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