Friesenkinder
»Ich hätte da ein paar Fragen an Sie, Frau …?«
»Berger. Sigrun Berger.«
Da die Frau ihm keinen Platz anbot und auch die andere Helferin wie angewurzelt neben dem Tresen stand, begann er einfach mit seiner Befragung.
»Wie wir erfahren haben, wurde Dr. Merizadi in der Nacht seines Todes zu einem Notfall gerufen. Können Sie mir dazu etwas sagen?«
Die blonde Dame schielte zu ihrer Kollegin, die nach wie vor das Taschentuch in ihren Händen knetete.
»Also, Anrufe nach Praxisschluss hat es öfter gegeben. Der Doktor war immer erreichbar für seine Patientinnen.«
»Und wird das irgendwo verzeichnet? Gibt es eine Rufweiterleitung, irgendetwas?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Außerdem fällt das unter die ärztliche Schweigepflicht. Ich dürfte Ihnen gar keine Auskunft geben.« Die Helferin blickte ihn unverwandt an, konnte seinem Blick aber nicht lang standhalten.
Thamsen wunderte sich über deren rebellische Art, verkniff sich aber einen Kommentar, dass er in diesem Fall ganz sicher eine richterliche Anordnung zur Aufhebung der Schweigepflicht beibringen konnte.
»Gab es ansonsten in der letzten Zeit irgendwelche Vorfälle?«
»Vorfälle?«
»Klagen, Beschwerden, eventuell sogar Drohungen?«
»Mit Klagen und Beschwerden haben wir hier jeden Tag zu tun. Oder meinen Sie, es ist ein Vergnügen, mit solch einer Kugel durch die Gegend zu laufen?«
Erst jetzt bemerkte Thamsen die Schwangerschaft der blonden Frau.
»Und wer sollte Dr. Merizadi gedroht haben? Er war ein sehr netter und einfühlsamer Arzt, der für jede Patientin Zeit hatte.«
»Könnten Sie sich denn irgendeinen Grund für seine Ermordung vorstellen?«, langsam wurde es Thamsen zu bunt mit den beiden Frauen. Die Dame, die hinter dem Empfangstresen saß, schluckte.
»Nein, nein, hier war alles in Ordnung.«
Sie stand am Fenster und sah hinaus. Morgen würde es endlich so weit sein. Schon morgen konnte sie endlich ihr Kind in die Arme schließen. Es küssen, liebkosen, einfach alles für ihr Kind tun. Endlich würde sie eine Mutter sein. So wie sie es sich immer gewünscht hatte.
Vor Aufregung ging sie im Kinderzimmer auf und ab. Kontrollierte noch einmal, ob auch alles da war, was das Kind brauchte. Hatte sie wirklich genug Windeln? Und wie sah es mit dem Milchpulver aus? Die ersten Tage würde sie die Wohnung nicht verlassen können. Daher musste alles in ausreichender Menge vorhanden sein.
Sie hatte alles genauestens geplant. Die Fahrt zum Krankenhaus, die Heimfahrt und die Tage zu Hause. Jede Minute hatte sie berücksichtigt. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Es konnte nichts schiefgehen. Es durfte nichts schiefgehen.
Ein wenig mulmig war ihr schon, dies alles ganz allein durchstehen zu müssen. Doch es ging nicht anders und wenn das Baby erst einmal da war, dann war sie ja auch nicht mehr allein. Dann wären sie zu zweit, so wie sie es sich jahrelang ersehnt hatte. Und nichts auf dieser Welt würde sie jemals wieder trennen können. Rein gar nichts.
Nachdem sie alles zum hundertsten Mal kontrolliert hatte, verließ sie das Kinderzimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Sie musste sich ausruhen, auch wenn sie noch so aufgeregt war und die Zeit kaum abwarten konnte. Aber morgen würde ein anstrengender Tag werden. Schön, aber anstrengend.
Nach der Befragung der beiden Arzthelferinnen fuhr Thamsen noch einmal nach Ladelund und inspizierte das Umfeld des Fundortes. Manchmal half es, sich in den Täter hineinzuversetzen, wenn man den genauen Tathergang rekonstruierte, zumindest soweit dies aufgrund des Ermittlungsstandes möglich war.
Die Männer von der Spurensicherung waren noch vor Ort und drehten quasi jeden Stein um. Und tatsächlich waren sie auf etwas gestoßen. Von der Straße bis kurz vor den Gedenkstein zogen sich schmale Reifenspuren über den Boden. »Könnten von einem Kinderwagen stammen«, urteilte der Mann, der gerade einen Gipsabdruck anfertigte. »Kinderwagen«, murmelte Thamsen gedankenverloren vor sich hin. Bedeutete das, der Täter könnte auch ebenso gut eine Frau sein? Der Fundort lag direkt neben der Straße. Es war unmöglich, mit einem Wagen bis an den Gedenkstein heranzufahren, aber mit einem Kinderwagen konnte vielleicht auch eine Frau einen Toten bis dorthin transportieren. Allerdings wog Dr. Merizadi, wenngleich er von der Statur eher schmächtig war, mit Sicherheit seine 70 Kilo. Normalerweise hätte er daher eine Frau als Täterin eher ausgeschlossen, denn die wäre rein körperlich
Weitere Kostenlose Bücher