Friesenkinder
flüsterte sie ängstlich, als sie ihre Hand auf seine Stirn legte. Seit gestern Abend war die Temperatur des Kleinen permanent gestiegen. Sie hatte ihm Wadenwickel gemacht, doch ohne Erfolg. Die Anzeige auf dem Thermometer wies einen immer höheren Wert aus.
Und trinken wollte er auch nichts. Die ganze Nacht hatte sie an seinem Bett gewacht, ihm immer wieder das Fläschchen angeboten. Aber er wollte es einfach nicht. Und von Stunde zu Stunde war ihre Angst größer und größer geworden. Was sollte sie nur tun? Sie fühlte sich so hilflos.
Sie nahm den Kleinen aus dem Bettchen und wiegte ihn im Arm. Dann ging sie hinüber ins Wohnzimmer zum Telefon. Sie setzte sich auf die feine Ledergarnitur, griff zum Hörer und wählte die Nummer eines befreundeten Arztes.
»Wenn das Fieber nicht sinkt, musst du mit ihm zum Kinderarzt«, antwortete er auf ihre Frage, was sie tun könne.
»Ich weiß aber gar nicht, bei welchem Arzt er ist. Und ich kann meine Freundin nicht erreichen.«
Sie hatte vorgegeben, auf das Kind einer Freundin aufzupassen.
»Ist doch egal. Dann geh zu irgendeinem. Notfalls fährst du ins Krankenhaus.«
Bei dem Wort Krankenhaus zuckte sie zusammen. Auf keinen Fall würde sie den Kleinen dorthin bringen. »Kannst du mir nicht etwas aufschreiben?«, bat sie deshalb.
»Ich bin Orthopäde und kein Kinderarzt. Versuch’s noch mal mit Wadenwickeln. Und gib ihm viel zu trinken. Aber wenn das nicht hilft, musst du zum Arzt mit ihm gehen. Ansonsten wird es kritisch.«
Haie saß am Küchentisch und schmierte sich gerade seine Frühstücksbrote, als das Telefon klingelte.
»Marlene wird heute entlassen«, tönte Toms noch recht verschlafene Stimme aus dem Hörer. Er hatte in der letzten Nacht im Krankenhaus kaum geschlafen und war von Niklas geweckt worden, der in aller Herrgottsfrühe schreienderweise nach seinem Frühstück verlangt hatte.
»Wie schön!«, freute Haie sich für die Freunde und bereute gleichzeitig, nicht gestern bereits alles für die Heimkehr besorgt zu haben. Er wollte Marlene einen kleinen Empfang gestalten, mit Girlande um die Haustür und einer Wäscheleine mit Kinderkleidung. Für die hatte er bereits seit Wochen bei sämtlichen Nachbarn abgelegte Strampler und Hemdchen gesammelt. Aber die Girlande fehlte noch.
»Wann seid ihr denn zu Hause?«
»Oh, das kann noch dauern. Erst mal müssen wir noch die Visite abwarten, und dann wollte noch jemand von der Husumer Polizei mit Marlene sprechen. Wahrscheinlich erst am Nachmittag.«
Haie atmete innerlich auf. Da blieb ihm zum Glück noch ein wenig Zeit für seine Vorbereitungen. In der Mittagspause konnte er schnell die letzten Dinge erledigen. Vielleicht gab ihm sein Chef sogar den Nachmittag frei.
»Aber was will denn die Polizei von Marlene? Gibt es was Neues im Fall des geklauten Babys?«
»Angeblich ja. Jemand will einen Mann mit einem Baby aus dem Krankenhaus rennen gesehen haben. Die Polizei hat ein Phantombild angefertigt, das sie allen Patienten zeigen wollen.«
»Hm, Phantombild.« Haie wusste selbst, wie schwierig es war, eine fremde Person aus der Erinnerung heraus zu beschreiben. Er bezweifelte, dass es in diesem Fall etwas brachte. Aber es gab keine andere Spur, da mussten die Husumer jedem Hinweis nachgehen.
»Und bei dir? Irgendwelche Neuigkeiten von eurem Hakenkreuzmaler?«, fragte Tom, da Haie schwieg.
»Nee, Thamsen wollte zwar mit Gunter wegen Lars reden. Aber ich weiß nicht, ob das was bringt. Schlimm, aber man kann gegen diese Neonazis kaum etwas tun.«
»Das ist ja auch eher Sache vom Verfassungsschutz«, bemerkte Tom.
»Ja, aber die können ohne Beweise oder Anzeigen auch nichts tun. Da müssen wir schon selbst ein wenig dafür sorgen, dass dieser braune Mist bei uns nicht überhand nimmt.«
»Mmh, nun mal man nicht gleich den Teufel an die Wand«, versuchte Tom, den Freund zu beruhigen. Er glaubte nicht, dass es einer kleinen Gruppe gelingen könne, den Großteil der nordfriesischen Bevölkerung zum Nationalsozialismus zu bekehren.
»Das weiß man nicht. Nordfriesland war von Hitler damals genauso angetan wie alle anderen. In Wittbek haben sie ihm sogar die Ehrenbürgerschaft verliehen.«
Haie hatte recht. Natürlich war der Nationalsozialismus einst auch in Nordfriesland verbreitet gewesen. Die Friesen waren ja sogar als Urgermanen von den Nazis glorifiziert worden. Die Verfilmung von Storms ›Schimmelreiter‹ war dabei nur ein Aspekt gewesen, der noch heute deutlich zeigte, wie der Friese als
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