Friesenkinder
blickte sich in der Zwischenzeit um. Er trat einen Schritt zurück und schaute zu den Fenstern, dann verschwand er um die Hausecke.
Da sich auch auf ein erneutes Klingeln nichts tat, folgte Dirk dem Freund in den Garten.
»Sieht ganz so aus, als sei sie ausgezogen.«
Vom Garten aus konnte man durch eine breite Fensterfront in das Haus blicken. Und Haie hatte recht. Es standen keine Möbel in dem großen, hellen Raum und das Haus schien aus dieser Perspektive völlig verlassen.
»Aber Dörte war doch vor zwei Tagen hier«, wunderte sich Thamsen.
»Na, vielleicht war die Frau auch mitten im Umzug und hat Dörte deshalb nicht reingelassen.«
»Aber das sagt man doch dann und lässt den Besuch nicht einfach so vor der Tür stehen.« Thamsen stemmte seine Hände in die Hüften. Ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit.
»Sieht eher aus, als wenn die Ratten das sinkende Schiff verlassen hätten«, bemerkte er nach einer Weile, als er sein Bauchgefühl in Worte kleiden konnte.
»Wie meinst du das?«
»Na ja, Lena Schmidt ist doch auch eine der Kandidatinnen von dieser merkwürdigen Liste aus der Praxis.« Er zog sein kleines Notizbuch, in dem er die Namen der Patientinnen, die Dr. Prust ihm genannt hatte, notiert hatte, aus seiner Jackentasche.
»Vielleicht habe ich die anderen durch meinen Besuch bei Julia Völler aufgescheucht«, mutmaßte er.
»Möglich.« Haie kratzte sich am Kinn. Er verstand allerdings nicht, wie die einzelnen Puzzlestücke zusammenpassen sollten. Der Mord an dem iranischen Arzt, der augenscheinlich von Rechtsradikalen verübt worden war. Zu denen hatte der Arzt allerdings ein angeblich gutes Verhältnis gehabt, immerhin waren viele Frauen aus der Gruppe bei ihm in Behandlung gewesen.
Aber wie passte das zusammen? Und was hatte das verschwundene Baby von Miriam Kuipers damit zu tun? Auch dessen Leiche war an der KZ-Gedenkstätte abgelegt worden. Was scheinbar alle irgendwie verband, sie waren Patientinnen bei dem toten Arzt gewesen und künstlich befruchtet worden. Da musste es doch einen Zusammenhang geben. Nur welchen?
Sie hatte sich die Bettdecke ganz weit über den Kopf gezogen. Wollte die Welt um sich herum nicht mehr sehen, wollte am liebsten tot sein.
Sie konnte keine Mutter sein. Sie war nicht gut genug. Nicht fähig. Biologisch nicht und auch sonst nicht. Jedes Kind, das sie ihr Eigen nannte, starb ihr quasi unter den Händen weg. Eines noch im Bauch und das zweite nach wenigen Tagen. Dabei hatte sie doch immer alles getan. Alles! Nicht geraucht, nicht getrunken, sich gut ernährt, keine körperliche Anstrengung. Sich an alle Vorgaben gehalten. Bücher gewälzt, im Internet recherchiert. Sie wusste alles über das Muttersein und wahrscheinlich doch nichts. Weil sie keine war. Diese wenigen Tage, in denen sie ein Leben in sich getragen hatte, die kurzen Stunden mit ihrem Kleinen im Arm zählten nichts.
Sie drehte sich herum, als könne sie dadurch dem schrecklichen Bild vor ihren Augen entkommen. Wobei es eigentlich kein wirkliches Bild war, es hatte keine Konturen, man konnte nicht wirklich etwas erkennen. Nur sie wusste, womit es in Zusammenhang stand. Nur sie verstand, was ihr Unterbewusstsein ihr damit sagen wollte, woran es sie erinnerte. Würde sie das je vergessen können?
Sie drehte sich erneut um, doch was sie auch tat, dieses Bild blieb. Wenn sie die Augen schloss, sah sie nur eines: Rot.
»Wen hast du denn da noch auf deiner Liste?«, fragte Haie, als sie wieder im Auto saßen.
»Birgit Giesler, Sonja Andersen und Angela Lützen«, las Thamsen von der Liste ab. Sicherlich gab es noch mehr solche seltsamen Fälle in der Praxis, aber dies waren die Namen, die Dr. Prust ihm vorläufig genannt hatte.
»Und die sind alle künstlich …?« Haie war es seltsamerweise irgendwie unangenehm, darüber zu sprechen.
»Laut Patientenakten, ja.«
»Also, wenn es da einen Zusammenhang gegeben hat, dann müssten die ja alle irgendwie Kontakt zu den Neonazis gehabt haben, oder?«
Thamsen wiegte den Kopf. War das möglich?
»Du könntest ja mal Lars fragen, vielleicht weiß der etwas?«, schlug Haie vor.
»Oder wir schauen erst noch einmal bei den anderen Frauen vorbei?« Thamsen war es lieber, sich zunächst selbst ein Bild zu machen. Er startete den Motor. »Weit auseinander wohnen die nicht, dann lass uns mal hinfahren.«
Doch bereits an der nächsten Adresse bot sich ihnen ein ganz ähnliches Bild. Nur diesmal trafen sie zumindest die Mutter der
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