Friesenrache
Jessen und Manni Thiele einen Besuch abstatten, aber seine Kinder hatten genug von seinen Recherchen und keine Lust, erneut im Auto zu warten. Darum verschob er die Befragungen der beiden Stammtischbrüder, die mit Kalli Carstensen das Lokal zusammen verlassen hatten, auf den nächsten Tag und fuhr mit Timo und Anne nach Hause. Die beiden machten es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem und stellten den Videorekorder wieder an, während er sich erneut in die Küche zurückzog, um seine Notizen zu sortieren.
Er nahm sich einen DIN-A4-Block und skizzierte die Beziehungen des Verstorbenen in einer Art Schaubild. Den Namen Kalli Carstensen schrieb er als Erstes auf das weiße Blatt Papier und zog mit einem roten Filzstift einen dicken Kreis darum. Anschließend notierte er die Namen der Ehefrau, des Sohns, des Bruders und dessen Frau. Dann riss er das Blatt vom Block und zeichnete eine weitere Darstellung, in welcher er die Leute aus dem Dorf und vom Stammtisch eintrug. Als er damit fertig war, legte er beide Zeichnungen nebeneinander und betrachtete sie. Zwischen den beiden Gruppen schien es keine Überschneidungen zu geben. Außer dem Namen Kalli Carstensens tauchte keiner der anderen doppelt auf. Der Mörder musste also entweder jemand aus der Familie oder ein Dorfbewohner sein. Alles andere schloss Thamsen aus. Dass der Tote lediglich das Opfer eines Verkehrsunfalls mit anschließender Fahrerflucht gewesen war, hielt er nach dem jetzigen Stand der Ermittlungen für ausgeschlossen. Dafür hatte Kalli Carstensen zu viel Dreck am Stecken gehabt.
Das nach wie vor stärkste Motiv hatte in seinen Augen immer noch der Bruder. Auch wenn dieser ihm gegenüber so tat, als ginge es ihm nicht ums Geld und er wüsste nicht, wie viel der Hof und die Ländereien seiner verstorbenen Mutter überhaupt wert waren. Seine Mimik hatte jedoch etwas ganz anderes ausgesagt. Da war es nicht nur um Familienehre und -tradition gegangen. Der jahrelange Streit der Brüder hatte einen tiefen Graben gezogen, der angefüllt war mit Wut und blankem Hass. Und vielleicht war dieser zwischen den beiden übergelaufen und hatte Friedhelm Carstensen zu dieser unglaublichen Tat veranlasst? Er wusste, sein Bruder besuchte jeden Dienstagabend den Stammtisch. Gut möglich, dass er ihm dort aufgelauert hatte. Möglicherweise war er ihm gefolgt. Hatte gesehen, wie Kalli sich von den beiden Bekannten an der Kreuzung verabschiedet und den Weg in den Herrenkoog eingeschlagen hatte.
Thamsen sah das mögliche Szenario wie einen Film vor seinem inneren Auge ablaufen. Friedhelm Carstensen startete den Wagen und fuhr seinem Bruder nach. Hinter der Kurve schaltete er das Licht aus und gab Gas. ›Krawum!‹ Der Körper wurde von dem Pkw erfasst und einige Meter durch die Luft geschleudert. Der Fahrer bremste und sah, wie sein Bruder mit dem Kopf auf dem Asphalt aufschlug. Eilig stieg er aus, hievte den Verletzten in seinen Kofferraum und machte sich aus dem Staub. Wenig später hielt er am Rand des Maisfeldes und versteckte den Bruder zwischen den hohen Stauden. Vielleicht lebte Kalli Carstensen zu dem Zeitpunkt noch, winselte um Hilfe. Aber Friedhelm Carstensen zeigte kein Mitleid.
»Papa?«
Thamsen fuhr erschrocken zusammen. Er hatte nicht bemerkt, wie seine Tochter in die Küche gekommen war.
»Timo sagt, Nis Puk gibt es gar nicht, stimmt das?«
Anne stand vor dem Tisch und blickte ihn mit großen, fragenden Augen über seine Aufzeichnungen hinweg an. Sie ist noch so klein, dachte er und streckte seine Arme aus. Das Mädchen schmiegte sich sofort in seine Umarmung, und er hob sie auf seinen Schoß.
»Weißt du Anne, es gibt viele Menschen, die glauben nicht an den Klabautermann oder ähnliche Geister.«
»Aber es gibt sie doch, oder?«
Er nickte. Vieles auf der Welt existiere, auch wenn einige Menschen nicht daran glaubten, erklärte er ihr. Es gäbe so viele Scheußlichkeiten, Leid und Grausames, und obwohl es eine Menge Leute gab, die das nicht wahrhaben wollten, bestand es trotzdem.
»Und mit anderen Dingen verhält es sich genauso. Nur weil jemand etwas für unmöglich hält, heißt das noch lange nicht, dass es nicht trotzdem existiert.«
Sie atmete erleichtert auf. Ihre Angst um die Existenz des kleinen Koboldes schien gebannt. »Gibt's denn schon eine neue Geschichte von ihm?«
Thamsen erzählte Anne regelmäßig Anekdoten aus dem Leben des Klabautermanns. Einige davon kannte er noch aus seiner
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