Friesenrache
Entschluss gefasst, sich von ihrem Wochenendausflug ein gemaltes Andenken mitzubringen.
»Über meinem Schreibtisch wäre der ideale Platz für solch ein Gemälde«, begründete sie ihr Kaufverlangen. Außerdem würde ein derartiges Bild ihr neues Projekt deutlich unterstützen. Sie untersuchte aktuell am ›Nordfriisk Instituut‹ die Sprache und Kultur der Inselfriesen.
»Fering nennen die Föhrer ihr Friesisch«, erklärte sie Tom und Haie. »Und das Erstaunliche daran ist, dass im Gegensatz zu anderen friesischen Sprachgebieten die Zahl der Friesisch sprechenden Inselbewohner in den letzten Jahrzehnten nahezu konstant geblieben ist. Hier identifiziert man sich deutlich stärker über die Sprache als in anderen Teilen des friesischen Sprachgebietes.«
Haie folgte aufmerksam ihren Ausführungen. Er interessierte sich sehr für die Geschichte der Friesen. War es doch auch ein Teil seiner eigenen Vergangenheit. Besonders aufschlussreich, wenn es um historische Hintergründe seiner Heimat und die Wesensart seiner Vorfahren ging, fand er persönlich auch die zahlreichen regionalen Erzählungen.
»Hast du denn auch schon Literatur zu Oterbaankin?«
»Was ist das denn?«, schaltete sich nun Tom ein, der ebenfalls fasziniert von alten nordfriesischen Geschichten war. Da er als Kind bereits einige Jahre in Nordfriesland gelebt hatte, war auch ihm die eine oder andere Spökenerzählung bekannt. Von Oterbaankin hatte er allerdings noch nie etwas gehört.
»Das sind Unterirdische«, klärte Marlene ihn auf. Die nordfriesischen Sagenstoffe würden sich vor allem um diese aus der skandinavischen Mythologie entstammenden unterirdischen Wesen ranken. Ihr Zuhause seien überwiegend die Nordfriesischen Inseln. Auf Sylt hießen diese koboldartigen Gestalten zum Beispiel Önerreersken.
»Und hier auf Föhr eben Oterbaankin. Aber leider gibt es kaum schriftliche Aufzeichnungen darüber.«
Ihr kulturelles Gespräch fand ein jähes Ende. Die Wirtin brachte ihre Bestellung, und die beiden Männer machten sich hungrig über die eingelegten Heringsfilets her. Sie hingegen stocherte eher appetitlos in dem Blattsalat mit Käseflocken.
»Schmeckt es dir nicht?«, fragte Haie, nachdem er den letzten Bissen seiner Mahlzeit hinuntergeschluckt hatte. Er blickte fragend auf den halb vollen Teller. Marlene, die ganz in ihre Gedanken versunken war, hatte seine letzten Worte nur am Rande wahrgenommen.
»Mhm?« Sie folgte seinem Blick. »Doch, doch! Ich habe nur gerade überlegt, was wir machen, wenn Barne nachher auch nicht daheim ist. Ich meine, wenn er etwas mit dem Tod deines Schulkollegen zu tun hat, dann hat er sich vielleicht für einige Zeit aus dem Staub gemacht. Könnte doch sein, oder?«
Haie hatte gestern Abend ganz ähnliche Gedanken gehegt. Barne kam als Täter durchaus in Betracht. Aber war er, wenn, dann nach dem Mord überhaupt auf die Insel zurückgekehrt? Vielleicht würde er erst einmal untertauchen? Zum Beispiel in Mexiko oder Chile? In den Krimis, die er aus dem Fernsehen kannte, waren das jedenfalls immer beliebte Reiseziele für Verbrecher. Vorsichtshalber hatte er am Morgen bei dem alten Schulkameraden angerufen. Und der war ans Telefon gegangen.
»Und was hast du gesagt?«
»Na gar nichts.«
Als Barne am anderen Ende der Leitung den Hörer abgehoben und seinen Namen genannt hatte, war Haies Hand blitzartig zur Gabel seines Telefons geschnellt und hatte durch ein kurzes Hinabdrücken des schwarzen Hebels die Verbindung unterbrochen. Im Nachhinein war der Anruf vielleicht jedoch ein Fehler, überlegte Haie. Barne könnte jetzt gewarnt sein, obwohl er wahrscheinlich ohnehin damit rechnete, dass man ihn aufgrund seiner Anschuldigungen gegen Kalli verdächtigen würde.
»Aber wäre es nicht besonders klug von ihm, wenn er trotzdem bleiben würde? Ein Verschwinden käme doch einem Schuldeingeständnis gleich«, meinte Marlene.
Haie zuckte mit den Schultern. Solange sie nicht genau wussten, worum es bei der Anzeige gegangen war, mussten sie erst einmal alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Dass es allerdings nur um die unerlaubte Veräußerung von irgendwelchem Versuchsmais gegangen sei, bezweifelte er nach wie vor.
»Du zeigst doch einen alten Freund nicht wegen solch einer Lappalie an«, verteidigte er seinen Verdacht.
»Was heißt denn hier alter Freund?«, warf nun Tom ein. Wenn man dem Gerede der Leute aus dem Dorf nur halbwegs Glauben
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