Friesenrache
eigenen Kindheit. Andere hatte er sich selbst ausgedacht.
»Na klar! Möchtest du sie hören?«
Die Kleine nickte begeistert.
»Also gut«, begann er und berichtete, dass man in Hollbüllhuus bei Schwabstedt auf einem Hof Nis Puk des Öfteren bei Sonnenschein in der Luke zum Heuboden hatte sitzen sehen. Er baumelte dort mit den Beinen und stützte den Kopf in beide Hände. Einmal als er da saß, hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, den Pudel unten auf dem Hof zu necken. Der Hund hatte fürchterlich gebellt und Niß Puk entsetzlich gelacht. Der Knecht, der durch das Gebell aufmerksam geworden war, hatte sich dann herangeschlichen und den Puk mit der Heugabel aus der Luke gestoßen. Das hatte den Kobold natürlich ärgerlich gemacht, und er wollte sich rächen.
Der Knecht hatte zu dem Zeitpunkt gerade neue Stiefel bekommen. Nis Puk schlich sich des Nachts in die Kammer des Knechts, zog die nagelneuen Stiefel an und schlurfte damit so lange umher, bis Hacken und Sohlen vollkommen abgewetzt waren.
Den Rest der Geschichte verschwieg Thamsen seiner Tochter. Er wollte nicht, dass die kleine Spukfigur einen zu schlechten Eindruck vermittelte. Im weiteren Verlauf der Erzählung hatte Nis Puk nämlich die Bodenleiter manipuliert, und der Knecht, der Korn auf den Speicher bringen musste, stürzte deshalb und brach sich beide Beine.
Marlene, Tom und Haie hatten sich nach einer ausgiebigen Pause wieder auf ihre Fahrräder geschwungen. Diesmal hatte Marlene ganz bewusst die Lenkung des Tandems übernommen. Sie wollte unbedingt noch bei einer der Galerien vorbeischauen, welche die Inhaberin des kleinen Cafés ihr empfohlen hatte. Zielstrebig lenkte sie deshalb das sperrige Gefährt durch die schmalen Straßen des alten Ortskerns. Tom konnte sich ihrem Willen aufgrund seiner nachgelagerten Position auf dem Drahtesel nicht widersetzen. Der lenkerähnliche Griff vor ihm hatte keinerlei Funktion und war lediglich zum Festhalten gedacht. Er schimpfte wie ein Rohrspatz.
»Dass es bei euch Frauen auch immer nur ums Shoppen geht. Ich denke, wir machen eine gemütliche Fahrradtour.«
»Machen wir doch«, konterte Marlene und bremste vor einem alten Reetdachhaus ab, »und dabei schauen wir uns die Bauwerke der Insel an. Auch von innen.«
Sie war abgestiegen und überließ Tom und das Tandem ihrem Schicksal. Der hatte einige Mühe das Rad zu halten.
Haie folgte der Freundin, die den schmalen Weg zum Haus hinaufgelaufen war und nach einem Klopfen an der Tür auf Einlass wartete.
»Ist Samstagnachmittag. Wahrscheinlich ist gar keiner da!«, bemerkte er, nachdem sich im Inneren des Hauses nichts regte.
Marlene klopfte erneut.
»Hast wahrscheinlich recht«, gab sie schließlich seufzend nach, als trotz mehrfachen Klopfens nicht geöffnet wurde.
»Dann schau ich halt noch mal in Wyk.«
»Ich denke, wir wollen zu Barne?«
Tom war ihnen, nachdem er das sperrige Fahrrad gegen einen Laternenpfahl gelehnt hatte, gefolgt.
»Und?« Sie blickte ihn trotzig an. »Dann eben morgen.«
»Morgen ist Sonntag«, triumphierte er. Aber sie verdrehte nur genervt die Augen und merkte wie beiläufig an, dass sie in einem Kurort zu Gast seien.
»Da haben die Geschäfte auch sonntags geöffnet«, erklärte Haie auf den fragenden Blick des Freundes. Tom stöhnte laut.
Von Oldsum fuhren sie weiter Richtung Dunsum. Von hier aus führte die Strecke wieder direkt am Außendeich entlang bis Utersum. Das Ortsbild des knapp über 400-Seelen-Dorfes wurde auch hier durch zahlreiche Friesenhäuser geprägt. Marlene interessierte sich vor allem für den Triibergem, ein Überbleibsel aus der Bronzezeit, bestehend aus drei alten Grabhügeln, um deren Ursprung sich verschiedene Legenden rankten, und auch Tom hätte gegen eine weitere kleine Pause nichts einzuwenden gehabt, aber Haie mahnte zur Eile.
»Zu spät sollten wir bei Barne auch nicht aufschlagen.«
So radelten sie also weiter und ließen das alte Friesendorf hinter sich. Der Wind hatte gedreht und kam nun wie so oft in Nordfriesland von vorne. Sie mussten kräftig in die Pedale treten, um einigermaßen zügig voranzukommen. Tom schmerzte bereits jetzt sein Hinterteil. Er klammerte sich an jeden Grashalm, der eine Chance auf eine kleine Verschnaufpause bot.
»Das Kliff will ich mir aber noch ansehen.«
Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf ein Schild, welches auf die Sehenswürdigkeit des Ortes hinwies.
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