Friesenrache
einmal musste sie zum Meer hinunterlaufen, wenn sie auf der Insel war. Gestern hatten sie dazu gar keine Gelegenheit gefunden, obwohl die Nordsee ständig zum Greifen nahe gewesen war. Der Boden gab unter ihren Füßen nach. Sie liebte das knirschende Geräusch des noch feuchten Sandes und ging ein paar Schritte.
In der Ferne sah sie einen Drachen fliegen. Die bunten Farben leuchteten strahlend zu ihr herüber und erinnerten sie an ihre Kindheit. Die Ferien hatte sie oft auf Amrum verbracht. Seitdem liebte sie den Norden. Selbst in Hamburg geboren und aufgewachsen, fühlte sie sich Nordfriesland jedoch noch inniger verbunden als ihrer nordischen Geburtsstadt. Dort, zwischen dem Lärm und Trubel einer Großstadt, fand man selten Momente wie diesen, in welchem man einmal innehalten und die Schönheiten der Natur betrachten konnte.
Sie lief hinunter zum Wasser und betrachtete die Ausläufer der Wellen, die gleichmäßig und beständig an den Strand rollten. Durch das fortwährende Rauschen des Meeres wurden ihre Gedanken fortgetragen. Sie sah sich und Tom Hand in Hand den Weg zu einer kleinen Kapelle hinaufgehen. Sie trug ein weißes Kleid aus Seide, während er in einem schwarzen Smoking neben ihr herlief.
Ob sie überhaupt jemals heiraten würde? Und Kinder? Immerhin war sie bereits Anfang 30, viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Die biologische Uhr tickte. Früher, es musste noch zu Schulzeiten gewesen sein, da hatte sie immer die feste Vorstellung gehabt, dass sie wahrscheinlich mit 20 oder wenig später heiraten und ein, zwei Jahre danach Mutter werden würde. Sie hatte sich immer eine große Familie gewünscht, denn sie selbst war leider ein Einzelkind.
Doch irgendwie verlief ihr Leben bisher ganz anders. Sämtliche Freundschaften gingen bereits nach wenigen Monaten wieder auseinander; Tom war der erste Mann, mit dem sie eine längerfristige Beziehung hatte. Prinzipiell konnte sie sich schon vorstellen, den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen und ein oder zwei Kinder in die Welt zu setzen, aber bisher hatten sie noch nicht wirklich darüber gesprochen. Sie wusste nicht, wie und wann sie das Thema am besten anbringen sollte, geschweige denn, wie er überhaupt zu Kindern stand. Er hatte lediglich einmal geäußert, er wünsche niemandem eine Kindheit wie die seine.
Toms Eltern waren früh bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Einige Jahre kümmerte sich sein Großvater um ihn, bis auch der starb und Tom von seinem Onkel, von dessen Existenz er erst zu diesem Zeitpunkt erfuhr, aufgenommen wurde. Es war nicht leicht für ihn, sich an ein Leben mit einem völlig Fremden zu gewöhnen, zumal der Onkel sehr zurückgezogen lebte und im Umgang mit Kindern über keinerlei Erfahrung verfügte. Freunde hatte Tom kaum gefunden, und auch die Beziehung zu seinem Onkel erwies sich als schwierig. So wurde seine Kindheit durch viele traurige Momente und vor allem durch Einsamkeit geprägt. Doch bei Tom und Marlene würde sich das natürlich ganz anders darstellen. Ein Kind könnte glücklich in einer intakten Familie aufwachsen, auf dem Land, wo es reichlich Platz zum Spielen gab. Wie aber sollte sie ihn darauf ansprechen? Würde er ihre Sehnsucht nach einer Familie, insbesondere nach Kindern verstehen? Sie seufzte und ließ ihren Blick noch einmal über die Weite des Meeres schweifen, ehe sie sich umdrehte.
Die Galerie lag nur wenige Meter vom Strand entfernt, und Marlene hatte Glück, der Laden war bereits geöffnet. Der Inhaber begrüßte sie freundlich.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich suche ein Bild.«
Der hochgewachsene Mann, dessen lange, blonde Haare im Nacken zu einem Zopf zusammengefasst waren, grinste, während er entgegnete, dass sie diesbezüglich bei ihm goldrichtig sei. Sie solle sich in aller Ruhe umschauen. Für Fragen stünde er gerne zur Verfügung.
Marlene blickte sich in dem kleinen Ladenlokal um. An den Wänden hingen Ölgemälde, Aquarelle und Kohlezeichnungen. Allen gemeinsam waren die Motive der nordischen Landschaft. Das Meer, Leuchttürme, Schiffe, Strand, grüne Wiesen.
»Was ist mit diesem Bild hier?«, fragte sie den Galeristen und deutete auf ein Gemälde, das in düsteren Farben die tosende Nordsee zeigte.
»Eine gute Wahl«, bestätigte der Mann, bezweifelte jedoch, dass solch ein finsteres Bild etwas für eine so bildhübsche Frau sei. Marlene fühlte sich geschmeichelt. Dennoch nickte sie. Irgendwie passte das Bild zu ihrem
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