Friesenrache
konnte er momentan wirklich nicht gebrauchen. Sein Vorgesetzter war ohnehin nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen. Das hatte er bereits am Freitag zu spüren bekommen. Nach den Obduktionsergebnissen, die bewiesen, dass Kalli Carstensen keines natürlichen Todes gestorben war, hatte sein Chef auf Ergebnisse gedrängt. Die Presse säße ihm im Nacken, sie bräuchten Resultate. Am Montag würden sie Unterstützung aus Flensburg erhalten.
Das fehlte Thamsen gerade noch. Nicht, dass er die Kollegen der Kripo nicht schätzte – sie leisteten eigentlich ganz anständige Arbeit –, aber er ermittelte lieber allein. Da musste er wenigstens niemandem Rechenschaft über seine Vorgehensweise ablegen. Er hielt sich nämlich nicht immer korrekt an alle Vorschriften. Hatte er noch nie getan. Wenn er etwas in einem Fall für notwendig erachtete, reizte er die Grenzen schon manchmal aus.
Er erreichte die Kreuzung, an der er für gewöhnlich umkehrte. Doch heute lief er weiter; seine Gedanken brauchten zusätzlichen Auslauf.
Ein Mensch war ermordet worden, und bisher wusste er weder von wem noch warum. Es gab zwar einige Anhaltspunkte, aber die Teile ließen sich nicht zusammenfügen. Der Bruder des Opfers war sein Hauptverdächtiger. Er verfügte über ein starkes Motiv und besaß kein konkretes Alibi. Außerdem war sein Wagen momentan in der Werkstatt, angeblich zur Inspektion. Überprüfen konnte Thamsen das jedoch bisher noch nicht. Die Firma, in welcher sich der Pkw laut Friedhelm Carstensen befand, war bereits geschlossen, als er gestern Mittag dort angerufen und versucht hatte, jemanden zu erreichen.
Der Nächste auf seiner Liste der möglichen Täter war Barne Christiansen. Die Anzeige wegen des illegalen Verkaufs von Genmais machte ihn verdächtig. Thamsen hatte die Akte inzwischen gelesen. Kalli Cars tensen sollte demnach für den Tod von Barne Christiansens Frau verantwortlich gewesen sein. Zu einer genaueren Untersuchung des Falls war es seinerzeit jedoch nicht gekommen, da die Anzeige zurückgezogen worden war. Ohne Angabe von Gründen. Das erschien ihm äußerst merkwürdig. Da würde er sich noch einmal dahinterklemmen und genauere Informationen sammeln. Hass war ein starkes Mordmotiv und in Zusammenhang mit Geld beinahe nicht zu übertreffen.
Allerdings gab es neben Friedhelm Carstensen und Barne Christiansen auch noch einige Landwirte aus dem Dorf, die nicht sonderlich gut auf den Ermordeten zu sprechen waren. Das Land, welches Kalli Cars tensen beim Zocken in der Gastwirtschaft gewonnen hatte, war wohl eine Stange Geld wert. Die ehemaligen Besitzer waren mit Sicherheit nicht besonders erfreut über den Verlust, was man sich an fünf Fingern abzählen konnte. War deswegen einer von ihnen zum Mörder geworden? Spielschulden waren Ehrenschulden. Und Ehre wurde hier im Norden großgeschrieben. Also eher unwahrscheinlich. Aber nicht ausgeschlossen. Deshalb setzte er die Bauern auf seiner Liste der Verdächtigen erst einmal an die letzte Stelle.
Das Gedankenknäuel in seinem Kopf löste sich durch die Sortierung der möglichen Täter ein wenig auf. Er spürte einen Schmerz am rechten Fuß, blieb stehen und zog den Schuh aus. Die Socke war ganz blutig.
Der kleine spitze Stein musste sich schon in seinem Schuh befunden haben, als er hineingeschlüpft war. Mürrisch schnippte er den Störenfried zur Seite. Apropos Störenfried. Er blickte auf seine Uhr. Es war bereits kurz nach neun Uhr. Die Kinder waren inzwischen bestimmt lange wach und wunderten sich sicherlich, wo er steckte. Schließlich hatte er nicht vorgehabt, so lange zu laufen, und keine Notiz hinterlassen. Eilig zog er den Schuh wieder an und joggte nach Hause.
»Ach, die Herrschaften frühstücken bereits.«
Tom stand vor ihrem Tisch und blickte beleidigt von Haie zu Marlene. Die beiden hatten sich reichlich an dem üppigen Buffet bedient: Kaffee, frische Brötchen, Rührei, Müsli. Den Tag sollte man schließlich mit einer ausgiebigen Mahlzeit beginnen.
»Ich hab bei dir geklopft, aber du hast dich nicht geregt«, entschuldigte sein Freund ihr Verhalten.
Tom trabte ohne ein weiteres Wort davon, um sich an den Resten des Frühstücksbuffets zu bedienen.
»Was hat er denn nur?«, fragte Haie.
»Keine Ahnung«, antwortete Marlene. Sie schob Toms schlechte Laune immer noch auf den entgangenen Sex. Aber sie hatte keine Lust, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Schließlich war es seine Schuld, dass
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