Friesenrache
Gatten? Und war der Mann, der sich kaum auf den Beinen halten konnte und bösartige Parolen durch den Raum gröl te, ihr Schwager, der seinen Bruder durch einen kaltblütigen Mord verloren hatte?
»Schluss jetzt!«, schrie sie unvermittelt und schlug mit ihren Gipsarm auf die Tischplatte, dass es nur so krachte. »Raus, alle raus!« Sie preschte von ihrem Stuhl hoch. Dr. Münsterthaler versuchte, sie zurückzuhalten, doch vergeblich. Sophie Carstensen eilte mit großen Schritten auf ihren Schwager zu, schwang dabei drohend ihren schweren Arm.
Tom, der sich sowieso gewundert hatte, dass man dem Unruhestifter noch keinen Einhalt geboten hatte, stand auf und zog dabei seinen Freund mit vom Tisch hoch.
»Komm, fass mit an.«
Gemeinsam packten sie Friedhelm Carstensen, der sich lautstark dagegen wehrte, und beförderten ihn nach draußen. Kommissar Thamsen und Irmtraud Carstensen folgten ihnen in sicherem Abstand.
Es hatte wieder zu regnen begonnen, doch die Abkühlung tat dem erhitzten Gemüt des Betrunkenen gut. Langsam wurde er ruhiger.
»Ich fahre Sie nach Hause«, bot Thamsen an und lief los, um seinen Wagen zu holen. Vermutlich hoffte er, der Bruder des Ermordeten würde in seinem jetzigen Zustand wichtige Informationen ausplaudern.
Tom und Haie halfen, den betrunkenen Mann auf den Rücksitz des dunkelblauen Fords zu verfrachten. Kaum hatten sie die Wagentür zugeschlagen, gab der Kommissar auch schon Gas und bog nach links in die Dorfstraße ein. Die beiden standen auf dem kleinen Vorplatz und blickten nachdenklich dem davonfahrenden Auto hinterher.
»Also ich glaub nicht, dass Friedhelm etwas mit dem Mord an seinem Bruder zu tun hat«, entgegnete Haie, nachdem Thamsen an der Verkehrsinsel abermals links abgebogen und der Pkw aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
»Aber ganz koscher ist der nicht«, wandte Tom ein.
Er konnte den skurrilen Auftritt des Betrunkenen zwar nicht wirklich in die Geschehnisse einordnen, aber in ihm breitete sich immer stärker das Gefühl aus, Friedhelm Carstensen könne nicht unbeteiligt an dem Mord gewesen sein.
»Der ist einfach fertig mit der Welt«, versuchte Haie, das sonderbare Verhalten des anderen zu erklären. Und das sei ja wohl nun wirklich nachvollziehbar. Der Streit um das Erbe habe ihm vermutlich mehr zugesetzt als es auf den ersten Blick schien. Nicht zu vergessen die hässlichen Gerüchte, die Kalli im Dorf über ihn verbreitet hatte. So etwas zerrte doch an den Nerven. Ganz abgesehen von der Schmach, die sein Bruder ihm damit bereitet hatte. Egal wie wenig Wahrheit solch böswilliges Gerede auch beinhalte, ein bisschen davon blieb immer an dem Verspotteten hängen.
»Wer den Spott hat, braucht für den Schaden nicht zu sorgen«, untermauerte Haie seine Erläuterungen.
»Es heißt, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen«, korrigierte Tom, doch der Freund ging darauf gar nicht ein, sondern fuhr mit seinen erklärenden Ausführungen fort.
»Und dann der Mord. Plötzlich steht er unter dem Verdacht, seinen eigenen Bruder umgebracht zu haben. Und Kommissar Thamsen ist sicherlich nicht der Einzige, der Friedhelm verdächtigt. Dass man da irgendwann ausrastet, ist doch nur verständlich, oder?«
12
Marlene hatte sich von ihrer Bibliotheksbekanntschaft in ein zauberhaftes Café in der Nähe des Campus entführen lassen.
Zunächst unterhielten sie sich über die nordischen Unterirdischen. Ari, so hieß der junge Mann aus der Unibücherei, studierte Germanistik und Geschichte und hatte im letzten Semester eine Hausarbeit über sagenumwobene Geister im norddeutschen Sprachgebiet verfasst. Begeistert, in Marlene eine interessierte Zuhörerin gefunden zu haben, erzählte er ihr von zahlreichen Geschichten über Zwerge und Spukgestalten, die zum Teil nur mündlich überliefert waren. Doch Marlene war nicht bei der Sache, immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Ihrem aufmerksamen Begleiter entging das zunächst. Erst als er sie nach dem Grund für ihr Interesse an der nordischen Geisterwelt fragte, bemerkte er, dass sie seine Erzählungen nicht wirklich verfolgt hatte.
»Hast du Stress?«, versuchte er, den Grund ihrer Unaufmerksamkeit zu ermitteln. Sie nickte, allerdings zögerte sie immer noch, mit einem Fremden über ihre Beziehungsprobleme zu sprechen. Auch wenn der junge Mann sehr nett und aufmerksam war; sie konnte ihm doch nicht von ihren Schwierigkeiten mit Tom erzählen.
Weitere Kostenlose Bücher