Friesenrache
war.
»Habt ihr denn nicht darüber gesprochen?«
»Schon, auch.« Er holte tief Luft. Er wollte in dem Freund keine falschen Hoffnungen wecken. Auch wenn es ihn schmerzte, Tom so leiden zu sehen. Letztendlich konnte er eh nicht sagen, wie Marlene sich entscheiden würde. Ob sie Tom eine Chance geben würde, ihr alles zu erklären.
»Ich denke, sie wird dich vielleicht anrufen«, formulierte er vage die Tatsache, dass Marlene gesagt hatte, sie werde darüber nachdenken. Doch Tom, der sich in der für ihn qualvollen Situation an jeden Strohhalm klammerte, überhörte den zweifelnden Unterton in der Stimme des Freundes.
»Das sind gute Nachrichten. Bestimmt kommt sie bald nach Hause!«, trällerte er fröhlich vor sich hin und trat kräftig aufs Gaspedal.
Haie war sich dessen zwar nicht sicher, hatte jedoch keine Gelegenheit mehr, etwas darauf zu erwidern, da er aufgrund Toms rasanter Fahrweise krampfhaft nach einem Halt am Türgriff suchen musste. Er war solche Geschwindigkeiten kaum gewohnt. Die grünen Felder schienen nur so an ihm vorüberzufliegen, während Tom wie ein Besessener die Landstraße durch den Koog entlangraste. Ihm wurde plötzlich speiübel.
»Halt an!«, schrie er und öffnete bereits die Beifahrertür; noch ehe der Wagen mit quietschenden Reifen vollkommen zum Stehen gekommen war.
14
Ulf Carstensen lenkte seinen Wagen über die Bundesstraße ins Dorf. Er war auf dem Weg zu seiner Mutter. Sein schlechtes Gewissen trieb ihn zu ihr.
Nach der Trauerfeier hatte er es in ihrer Nähe nicht länger aushalten können. Ihr leidiger Blick, die zusammengesunkene Körperhaltung, ihr Schweigen. Er hatte das alles nicht länger ertragen können, musste raus aus seinem ehemaligen Zuhause, weg von seiner Mutter, fort aus dem Dorf. Ihr hatte er erzählt, er müsse arbeiten.
»Aber hättest du denn an solch einem Tag nicht freinehmen können? Da muss man doch Verständnis für haben«, hatte sie gefragt und ihn mit ängstlichen Augen angeschaut. Sie hatte Angst vor dem Alleinsein, fürchtete sich vor der Einsamkeit, die mit eisigen Fingern nach ihr zu greifen drohte.
»Ich hab in den letzten Tagen schon so viele Diens te verschoben und getauscht. Heute ging es wirklich nicht.«
Tatsächlich aber war er nach Flensburg zu Freunden gefahren. Und dort war er geblieben. Nicht nur an diesem Abend, sondern auch noch den nächsten Tag und den darauf folgenden. Er brauchte Abstand, musste erst einmal seine Gedanken sortieren, die Ereignisse der letzten Tage verdauen.
Doch gegen Abend hatte sein schlechtes Gewissen ihn dann doch überwältigt, und er hatte sich auf den Weg nach Risum-Lindholm gemacht. Schließlich war sie seine Mutter.
Und sie musste viel durchmachen in der letzten Zeit. Nicht nur der Mord an seinem Vater und der unmögliche Auftritt des Schwagers auf der Trauerfeier machten ihr zu schaffen. Sie hatte es auch zu Lebzeiten ihres Mannes nicht leicht gehabt. Und immer stand sie allein da, mit ihren Ängsten und Nöten, einfach mit ihrem ganzen bedauernswerten Leben. Wer hielt denn zu ihr? Ulf war bereits vor etlichen Jahren ausgezogen, hatte sie quasi im Stich gelassen. Niemals machte sie ihm deswegen Vorwürfe, aber er wusste, dass sie es so empfand, empfinden musste. Beinahe fluchtartig hatte er, als sich die Gelegenheit ergab, sich für zwölf Jahre bei der Bundeswehr zu verpflichten, seine Sachen gepackt und war nach Schleswig gezogen.
Er war froh, dem allen entflohen zu sein, vor allem seinem Vater, der sowieso nur an ihm herumnörgelte. ›Sei fleißiger. Schreib bessere Noten. Aus dir wird nie etwas Anständiges!‹
Ulf hörte die Vorwürfe seines Erzeugers förmlich in seiner Erinnerung laut widerhallen.
Nur um seine Mutter hatte es ihm stets leidgetan. Genauso wie heute.
Friedhelm würde sie nicht unterstützen und sich um das Erbe seines Bruders kümmern. Ausgeschlossen. Nicht nach dem, was er in der Gastwirtschaft von sich gegeben hatte. Er war doch froh, das gehasste Familienmitglied endlich unter der Erde zu wissen, und würde keinen Finger rühren, um den Hof und die Ländereien, die sein Bruder sich nach seiner Ansicht sowieso nur durch schmutzige Geschäfte und Betrügereien ergaunert hatte, zu bewirtschaften.
Es würde ihr also nichts anderes übrig bleiben, als das Gehöft zu verkaufen. Wie er ihr das beibringen sollte, wusste er noch nicht. Sie hing irgendwie an dem alten Haus. Und wenn es verkauft wurde, wo
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